Es ist jetzt ein Notfall: Wie denn der Vogel- und Fledermausschutz und die möglichst sofort schnellere Zulassung von Windparkprojektierungen zusammengehen sollen, haben die Koalitionäre offenbar noch am Montagabend im Kabinett beschlossen. So war es am Dienstagvormittag aus den sprichwörtlich gewöhnlich gut informierten Kreisen in Berlin zu erfahren. Das hier federführende Bundeswirtschaftsministerium und die Ampelminister verpackten die Regelungen wie erwartet in einer Umsetzungsverordnung zur jüngsten Notfallverordnung der Europäischen Union (EU), die das Kabinett mit einer Reform des Raumordnungsgesetzes verknüpft. So setzten die Politiker von SPD, FDP und Grünen die entsprechende Beschlussfassung für eine Anhörung über die EU-Notfallverordnung noch am Dienstag auf die Tagesordnung des Bundestagsausschusses für Klimaschutz und Energie. Dieser tagt am Mittwoch. Möglicherweise behandle der Bundestag die Umsetzung der Notfallverordnung noch am Donnerstag im Plenum, hieß es am Dienstag.
Weil die EU-Notfallverordnung auf einen raschen Ausbau neuer EU-weiter Energieerzeugungskapazitäten zielt, um das Staatengebiet von der Energierohstoffversorgung aus dem in der Ukraine Krieg führenden Russland abzunabeln, muss es gemäß EU-Verordnung auch beim Windkraftausbau schneller gehen. Die Formulierungshilfe aus dem Bundeswirtschaftsministerium – seit Anfang Februar ist sie bekannt – sieht den Erlass der Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) oder auch naturschutzfachlicher Prüfungen vor der Genehmigung neuer Windparks vor – und zwar unter einer Voraussetzung: Die zeitaufwendigen Prüfungen insbesondere zum Schutz von Vögeln und Fledermäusen vor dem tödlichen Schlag der drehenden Rotoren dürfen wegfallen, wenn die Behörden die größere Region rings um die anvisierten Standorte schon durch eine strategische Umweltprüfung als tauglich für den Turbinenbetrieb qualifiziert haben. Bis zum 30. Juni 2024 ist die Notfallverordnung freilich befristet.
Was das für den konkreten Artenschutz rings um Windparks bedeuten wird, ist den Dienstleistungsunternehmen für Artenschutzprüfungen in Deutschland noch keineswegs klar. Gutachter Fabian Fischer kann sich kaum vorstellen, dass die Gutachten zum Flugverhalten der Tiere rings um Windenergieanlagen so schnell weniger gefragt sein werden. „Das kann nur ohnehin problemlose Windparkprojekte betreffen, die sich in ausgewiesenen Windenergienutzungsgebieten befinden, denen die Behörden einen solchen Unbedenklichkeitsstempel wie eine strategische Umweltprüfung schon bisher anheften konnten.“ Der Gutachter ist einer von drei Gründern des im September vergangenen Jahres in der Standortgemeinde des Hauptstadtflughafens Schönefeld am südlichen Rande Berlins eröffneten Gutachterbüros Arvensis.
Die Nachfrage nach naturschutzfachlichen Prüfungen oder den UVP oder auch Kartierungen von Brutvogel-, Rastvogel- oder Zugvogelbewegungen ist enorm. Fischer hatte sich aus der Anstellung bei einem branchenbekannten Vogelgutachten-Dienstleistungsunternehmen heraus selbstständig gemacht, weil er das Potenzial durch die vom neuen Windenergie-an-Land-Gesetz nun vorgesehene Ausweisung großer neuer Eignungsflächen für Windparkprojekte sah. Gute Artenschutzexpertise dürfte mit großer Sicherheit angesichts eines bundesweit womöglich vorher nie gekannten Ausmaßes der Windkraftprojektierungen gefragt sein. Das 2022 verabschiedete Gesetz schreibt allen Bundesländern vor, bis 2032 die Projektierungsflächen für Windenergie auf einen Zwei-Prozent-Anteil an der bundesweiten Landfläche zu erhöhen. In den Bundesländern müssen Landes- und Lokalpolitiker nun wie in Baden-Württemberg bis zu neun Mal mehr Eignungsgebiete als bisher ausweisen, sie sehr häufig aber zumindest verdoppeln. Schon Wochen nach der Gründung war das Trio der drei Arvensis-Gründer ausgebucht. Inzwischen sind zwei festangestellte und vier freie Mitarbeiter mit im Team.
Werden die UVP und die naturschutzfachlichen Prüfungen also künftig nur noch für die gesamten Windenergieeignungsflächen einmal statt für darin befindliche mehrere Windparkprojekte mehrfach notwendig sein? Denkbar wäre natürlich auch, dass die Umweltgutachtendienste überhaupt nicht die Kapazitäten haben, für eine Vielzahl neuer ganzer Plangebiete in den nur eineinhalb Jahren der EU-Notfallverordnung solche strategischen Umweltprüfungen zu erstellen, so überlegt es Arvensis-Chef Fischer. „Denkbar auch, dass die Gerichte in mehreren Verfahren klären müssen, welche Gutachten wann durch wen erforderlich sein werden“, heißt es aus einem Gutachterbüro in Baden-Württemberg.
Je mehr der Ausbau der Windenergie voranschreitet und in zunehmend geringeren Abständen zueinander neue Windparks entstehen, desto wichtiger werden die Gutachter für Umweltauswirkungen. Und das gilt nicht nur für Tiere, sondern auch für anwohnende Menschen. Während Umweltexperten mit avifaunistischen Expertisen in der Wertschöpfungskette der Windkraft längst etabliert sind, haben Schattenwurf- und Schallgutachter die Emissionswerte an den Turbinen und die Immissionswerte bei den Anwohnern regelmäßig im Blick.
Die Bedeutung der Umweltgutachter dürfte – Notfallverordnung hin, Notfallverordnung her – weiter zunehmen: Denn um die Ziele des Tier- und des Anwohnerschutzes und zugleich eine immer dichtere flächendeckende Bestückung des Landes mit den immer höheren leistungsstarken Riesenturbinen zu gewährleisten, braucht es auch einen zunehmend flexiblen und einen intelligenteren Umgang mit den Auswirkungen der Windturbinen auf ihr Umfeld. Schon die im ersten vollständigen Regierungsjahr von der neuen rot-gelb-grünen Ampelkoalition produzierten Gesetze zum beschleunigten Ausbau der Erneuerbare-Energien-Stromerzeugung hatten 2022 hierfür Zeichen gesetzt. Mit der Ausgestaltung der EU-Notfallverordnung für Deutschland wird es noch einmal konkreter: So sieht die nach den Parteifarben benannte Ampelregierung ausdrücklich „Vermeidungs- und Minderungsmaßnahmen“ vor, mit denen Windparks auch bei zu erwartendem Vogel- und Fledermausflug in einem Gebiet unbedenklich in Betrieb gehen können. Und für den Schallschutz sehen die Bestimmungen künftig speziell für das Repowering eine Delta-Regelung vor: Tauschen Windparkprojektierer alte Windturbinen gegen leistungsstärkere größere neue Turbinen aus, so dürfen die neuen Anlagen nicht sinnvolle Anwohnerlärmschutzberechnungen umgehen – so sie die Situation auf dem alten Windkraftnutzungsstandort verbessern. Soll heißen: Wo die alten Windturbinen die inzwischen strengeren Lärmschutzberechnungsregeln nicht mehr erfüllen können, dürfen neue Turbinen auch oberhalb der Emissionsgrenzen in Betrieb gehen, wenn sie vergleichsweise leiser als die abgebauten Altanlagen sind.
Eine der Expertinnen, die Windparkprojektierer durch das sich beständig verändernde Umfeld der Erzeugungsbedingungen für Windstrom lotst, ist Beate Mallow. Die Geschäftsführerin des in Rerik bei Rostock ansässigen Unternehmens Enosite prüft im sechsköpfigen Team des Unternehmens die Wirkungen von Schall und Schatten auf die Anwohner und verdeutlicht durch Visualisierungsdarstellungen die optischen Emissionen auf denkmalgeschützte Bauwerke, Siedlungen oder historische Anlagen. Ihre ganzheitliche Betreuung zielt aber nicht nur auf die Genehmigung der Windparkprojekte, sondern auch auf die zu erwartende Wirtschaftlichkeit des geplanten Windparks. So rechnet Enosite durch, was der Windparkbetrieb beispielsweise bei nächtlichen Abschaltungen zum Schutz der Anwohner aufgrund bestimmter Wind- und Schallrichtungen oder bei Abschaltungen zum Vogelschutz in bestimmten Vogelflugphasen noch einbringen kann.
Mitunter, so erlebte es Mallow in den vergangenen Wochen, sind die Gutachter angesichts inzwischen auch schnell wechselnder Bestimmungen sogar so etwas wie zwischenzeitliche Pfadfinder für Windparks Betreibende. Als die im Herbst eingeführte Regelung zur Gasmangellage den nächtlichen Lärmschutz gelockert hat, hätten „am Anfang die Windparkbetriebsführungen hin und wieder nachgefragt“, sagt Mallow. Doch die mit dem 1. April endende Übergangsregelung sah nur vor, dass Windparks nachts auch gegen Lärmobergrenzen zum Anwohnerschutz verstoßen dürfen, wenn die Anlagen zu den Ruhezeiten in einem leistungsschwächeren Betriebsmodus fuhren und damit weniger Lärm erzielten. Die Turbinen durften dann nachts auf einfachen Antrag um vier Dezibel lauter sein, wenn die Betreibenden einen einfachen Beleg über die entsprechende Einstellmöglichkeit der Anlage vorweisen konnten. „Die mussten nur belegen, dass ihre Turbine mit dem nächsten Betriebsmodus nicht mehr als vier Dezibel zusätzlich verursachten“, erklärt Mallow.
„Zunehmen dürfte auch die Bedeutung für Überwachungssensorik, die frühere starre Abschalte-Vorgaben für Windparks zum Vogel-, Fledermaus-, Lärm- und Schattenwurf-Schutz flexibler handhaben lassen. So bietet das mittelfränkische Unternehmen Fleximaus seit 2018 ein Fledermaussensorik-System für Windparks an, das Abschaltungen zum Schutz der wetter- und witterungsabhängig fliegenden Fledermäuse deutlich seltener werden lässt. Davor hatte das Unternehmen das System in eigenen Windparks erprobt, das Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, Temperatur und Windbedingungen misst und aus den Daten über einen digitalen Rechenalgorithmus die Wahrscheinlichkeit von Fledermausaktivitäten errechnet. Das System ist inzwischen bei Behörden anerkannt und schaltet die Windenergieanlagen selbstständig je nach Fledermausaktivität ab und wieder an. Mit Updates und permanenter Überwachung sichern die Dienstleister zudem für die von ihnen ausgerüsteten Windparks ab, dass der Tierschutz auch wirklich funktioniert.
Und inzwischen haben sich die Fleximausentwickler zunutze gemacht, dass Abschaltungen aufgrund fliegender Fledermäuse, fliegender Vögel, des Schattenwurfs und des Lärms zu jeweils unterschiedlichen Zeiten stattfinden (siehe folgendes Interview). Ihr System lässt sich für alle vier Zwecke einsetzen – wo die Genehmigungsbehörden mitmachen.
Lesen Sie im Folgenden auch über Angebote sowie Einschätzungen, Erfahrungen und Erwartungen direkt von Fleximaus (hier geht es zum Interview) und von weiteren Anbietern für Lösungen, um Windkraft und Umweltschutz für Tier und Mensch zu versöhnen: Enerplan (hier geht es zum Interview), Kötter Consulting (hier geht es zum Interview).