Wenn die globale Erwärmung weiter voranschreitet, können sich gefährliche Klima-Domino-Effekte entwickeln. Wie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) in einer Netzwerkanalyse ermittelte, sind die Eisschilde auf Grönland und der Westantarktis hierbei mögliche Ausgangspunkte für Kippkaskaden. Das Gefährliche: Ist ihr Kipppunkt erst einmal überschritten, könnten hierdurch über die Atlantikzirkulation auch entfernte Elemente wie der Amazonas-Regenwald beeinträchtigt werden. Die Folgen für den Menschen würden vom Anstieg des Meeresspiegels bis zu schweren Schäden der Biosphäre reichen.
Wechselwirkungen im Netzwerk können laut der Studie die Temperaturschwellen senken, jenseits derer einzelne Kippelemente langfristig instabil werden – das Risiko hierfür nimmt bereits im Temperaturbereich des Pariser Klimaabkommens zwischen 1,5°C und 2°C deutlich zu.
Weniger Zeit, um langfristige Auswirkungen zu verhindern
„Wir liefern eine Risikoanalyse, keine Vorhersage“, betont Ricarda Winkelmann, Leiterin des FutureLab ‚Earth Resilience in the Anthropocene‘ am PIK und Ko-Autorin der Studie. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Wechselwirkungen zwischen den vier hier betrachteten Kippelementen diese langfristig vulnerabler machen können.“ Durch die Rückkopplungen werden tendenziell die kritischen Temperaturschwellen des westantarktischen Eisschildes, der Atlantikzirkulation und des Amazonasregenwaldes gesenkt, wohingegen die Temperaturschwelle für ein Kippen des grönländischen Eisschildes bei einer deutlichen Verlangsamung des Nordatlantikstroms auch angehoben werden kann. „Alles in allem könnte dies bedeuten, dass wir weniger Zeit haben, um unseren Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern und Kipp-Prozesse noch zu verhindern.“
Ein Drittel der Simulationen zeigt Domino-Effekte bereits bei bis zu 2°C Erwärmung
Etwa ein Drittel der Simulationen in der Studie zeige Domino-Effekte, bei denen das Kippen eines Elements weitere Kippprozesse anstößt, bereits bei einer globalen Erwärmung von bis zu 2°C. „Wir verschieben die Chancen, und zwar nicht zu unseren Gunsten - das Risiko nimmt eindeutig zu, je mehr wir unseren Planeten aufheizen“, sagt Jonathan Donges, ebenfalls Ko-Autor und Leiter des PIK FutureLab ‚Earth Resilience in the Anthropocene‘. „Es steigt zwischen 1 und 3°C deutlich an. Wenn der Ausstoß von Treibhausgasen und der daraus resultierende Klimawandel nicht gestoppt werden, würde die obere Grenze dieses Temperaturbereichs wahrscheinlich schon am Ende dieses Jahrhunderts überschritten werden. Bei noch höheren Temperaturen sind weitere Kipp-Kaskaden zu erwarten, mit langfristig verheerenden Auswirkungen.“
Kippelemente sind Teile des Erdsystems, die – sobald sie sich in einem kritischen Zustand befinden – als Reaktion auf Störungen große und möglicherweise unumkehrbare Veränderungen durchlaufen. Sie können stabil erscheinen, bis ein kritischer Schwellenwert, beispielsweise in der Temperatur, überschritten wird. Einmal ausgelöst, kann der eigentliche Kippprozess sehr lange dauern – im Falle der Eisschilde beispielsweise hunderte oder sogar tausende Jahre – aber die Auswirkungen wären erheblich: Der Meeresspiegel würde um viele Meter ansteigen und Küstenstädte wie New York, Hamburg, Mumbai oder Schanghai bedrohen. Dies ist schon länger bekannt; nicht so gut erforscht war bislang, welche Rolle die Wechselwirkungen zwischen den Kippelementen dabei spielen.
Komplexe Wechselwirkungen beschleunigen die Prozesse
„Hier ist nur ein Beispiel für die vielen komplexen Wechselwirkungen zwischen den Kipp-Elementen im Erdsystem: Wenn große Teile des grönländischen Eisschildes schmelzen und das Schmelzwasser in den Ozean gelangt, kann dies die Atlantikzirkulation verlangsamen, die durch Unterschiede in Temperatur und Salzgehalt angetrieben wird und große Wärmemengen aus den Tropen in die mittleren Breiten und Polarregionen transportiert“, erklärt Nico Wunderling vom PIK, Erstautor der Studie. „Dies wiederum kann zu einer effektiven Erwärmung im Südlichen Ozean führen und damit Teile des Antarktischen Eisschildes destabilisieren. Der resultierende Anstieg des Meeresspiegels wiederum kann zu einer weiteren Destabilisierung beider Eisschilde auf Grönland wie der Antarktis beitragen.“
Da große Erdsystemmodelle bislang zu viel Rechenaufwand erfordern, um die Wechselwirkungen der Kippelemente und ihre Auswirkung auf die Gesamtstabilität des Klimasystems zu ermitteln, verwenden die Wissenschaftler einen neuartigen Netzwerkansatz. „Unser konzeptionelles Modell ermöglicht es uns, mehr als drei Millionen Simulationen durchzuführen und dabei die kritischen Temperaturschwellen, die Interaktionsstärken und die Netzwerkstruktur zu variieren“, erklärt Jürgen Kurths, Leiter der PIK-Abteilung ‚Komplexitäts-Forschung‘. „Auf diese Weise konnten wir die erheblichen Unsicherheiten berücksichtigen, die es bei den Eigenheiten von Kipp-Wechselwirkungen gibt.“
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