Mit gut 70 Kilometern in der Stunde peitscht das Schlauchboot über die Wogen in der Elbe-Nordsee-Mündung vor Cuxhaven. Nach jedem überfahrenen Wellenberg prallt der Rumpf hart auf das Wasser. Sicherheitsgurte gibt es nicht – wir sind acht Passagiere, die sich an Griffen, Riemen und Rohren festhalten. Plötzlich sind wir nur noch sieben. „Mann über Bord!“, rufen gleich drei meiner Gefährten. Der Bootsführer verlangsamt seine Fahrt. Sein Blick folgt dem Arm eines Passagiers, der in Richtung der verunglückten Person zeigt. Das Boot wendet und nach kurzer Rettungsaktion sind alle Insassen wieder vollzählig.
Über Bord ging Michaela Meyer, Gründerin von Inasea, einer Schulungseinrichtung für maritime Sicherheit. Der Bootstrip beendet regelmäßig den Praxisteil des zweiten Seminartags im dreitägigen Basiskurs Basic Offshore Safety Induction and Emergency Training. Die Ausfahrt rüttelt die Teilnehmer für den Theorieteil am Nachmittag wach. Und manchmal gehören dazu auch Spezialeinlagen wie das plötzliche Mann-über-Bord-Manöver von Michaela Meyer. Wie man sich bei solch einem Szenario verhalten muss, hat sie den Mitfahrern schon am Vormittag erklärt.
Pünktlich um neun Uhr ist Seminarbeginn im Gebäude der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft DLRG am Cuxhavener Mehrzweckhafen Schleusenpriel. Zusammen mit 13 Seminarteilnehmern habe ich entlang der U-förmigen Tischkonstellation Platz genommen. Michaela Meyer steht hinter ihrem Seminarleiter-Schreibtisch. Für alle Teilnehmer heißt sie nur Michaela. Man duzt sich unter Offshore-Leuten. Die Inasea-Gründerin leitet heute den ersten Teil des Theorieunterrichts, der uns auf die Übungen im Wasser vorbereitet – mit wenig Text, vielen Bildern und präzisen Erklärungen.
Rudern wie ein Mississippi-Dampfer
Ein Beamer wirft die ersten Bilder an die Wand – Menschen in unförmiger roter Ganzkörperkluft. „Was hier aussieht wie ein Teletubby-Kostüm, ist der Überlebensanzug“, sagt sie. Unter der dicken Neoprenschicht soll man bei einer Wassertemperatur von null Grad bis zu sechs Stunden überleben können. Das größte Manko eines solchen Anzugs in Kombination mit der Schwimmweste ist die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit. Michaela erläutert daher einige grundlegende Fortbewegungstechniken: wie man mit dem Anzug Leitern erklimmt, schwimmt und – mit etwas Geschick – senkrecht wie ein Korken im Wasser steht. Die Montur ist für die Rückenlage konzipiert und dreht ihren Träger vorzugsweise in diese Position. „Brustschwimmen ist damit nur schwer möglich. Ihr schwimmt in Rückenlage und rudert wie ein Mississippi-Dampfer mit den Armen“, sagt Michaela.
Nach dem Basiswissen erklärt sie, in welchen Formationen wir am besten als Gruppe schwimmen, wie wir uns eine Helikopterschlinge zur Bergung umlegen, ohne einen Rückenschaden zu riskieren, und welche Tücken eine Rettungsinsel bereithält. Auch die Handlungsschritte der Mann-Über-Bord-Übung gehören zum Theorieteil, der nach rund 90 Minuten abgehakt ist. Dann ist Pause.
Einigen Teilnehmern sind Theorie und Praxis des Kurses schon bekannt. Darunter Kai Schmidt. Der studierte Nautiker will künftig hinter dem Steuerrad eines Schiffs für die Offshore-Windindustrie arbeiten. „Ich hab im Studium schon den zweiwöchigen STCW-Kurs gemacht, aber der Offshore-Basiskurs wird von den Firmen bei der Bewerbung gern gesehen.“ STCW steht für Standards of Training, Certification and Watchkeeping für Seefahrer. Der heutige Basis-Offshore-Kurs beinhaltet nur Auszüge aus diesem vollständigen Seefahrerprogramm – für Kai ist er daher eigentlich überflüssig. Dass es dennoch „gern gesehen wird“ ist symptomatisch für die herrschende Unsicherheit. „Es gibt keine rechtssicheren Vorschriften, darum gehen einige Unternehmen auf Nummer sicher“, erklärt Michaela.
Diese Unsicherheit setzt sich auch in den Basiskursen für Nicht-Seefahrer fort. International gibt es je nach Land unterschiedliche Zertifikate und Standards, die einst die Öl- und Gasbranche aus eigener Initiative entwickelt hat. Viele Teilnehmer fragen daher auch Inasea, ob das Zertifikat den Ansprüchen ihres jeweiligen Arbeitgebers genügt. Sie bekommen dann eine Bescheinigung über die Trainingsinhalte, die sie vom Arbeitgeber absegnen lassen können, bevor sie sich für das Training anmelden. Bisher habe es noch keinen Fall gegeben, in dem das Zertifikat nicht anerkannt wurde. Die Pause endet, das Praxistraining beginnt. Wir gehen in Richtung Hafenbecken zu einer Leichtbauhalle, in der die Überlebensanzüge warten. Eingehüllt in die rote Neoprenschicht watscheln wir zur Kaimauer, wo wir nach und nach über Eisen- und Strickleitern die viereinhalb Meter ins Hafenbecken hinabklettern. Sobald der im Freien schwer herunterhängende Anzug im Wasser ist, presst er sich eng an den Körper. Nächste Übung: Beine anwinkeln und nach unten stoßen, während die Arme den Oberkörper mit einem ruckartigen Brustschwimmzug nach vorn ziehen – so sollen wir aus der Rückenlage in die Senkrechte kommen – es klappt mit etwas Mühe beim dritten Versuch.
Schwimmübung im Raumanzug
Dann folgt in Fünfergruppen das Formationsschwimmen. Erst eine Kette bilden, um sich nicht zu verlieren. Dann einen Kreis, Gesicht nach außen, die Arme mit denen des Nachbarn verhakt. „In dieser Formation bildet ihr einen größeren roten Klecks im Wasser und seid dadurch besser sichtbar“, hat Michaela in der Theoriestunde den Sinn der Übung erklärt. Nun noch kräftig mit den Beinen rudern, so entstehen Muster im Wasser, die dem potenziellen Retter besser ins Auge fallen. Der muss im Ernstfall schon in Sichtweite sein, bevor man zu strampeln beginnt. Denn insbesondere mit dickem Schutzanzug kostet die Übung viel Energie – und oberste Prämisse beim Überleben auf See ist das Energiesparen.
Schwierigste Übung am Praxistag ist der Einstieg in die schwimmende Rettungsinsel – eine Art Campingzelt mit Gummibootunterbau. Was in einer Badehose kein Problem ist, fällt im Raumanzug mit Topfhandschuhen schwer. Irgendwann haben die Handschuhe die Haltegriffe in der Rettungsinsel gefunden – fest zupacken, Knie auf den Gummivorsprung der Insel und kopfüber hineinstürzen. Dieser Kraftakt sorgt für einen ordentlichen Pulsanstieg und die Temperatur im Anzug steigt auf gefühlte 80 Grad.
Zeit für etwas Entspannung: retten lassen. Unsere Gruppe fährt in einem kleinen Motorboot den Schleusenpriel entlang. Ich springe bei leichter Fahrt ins Wasser; schon setzt sich die Rettungskette in Bewegung: Ein Kollege ruft „Mann über Bord“ und verfolgt meine Position mit seinem Arm, während das Boot wendet. Ein paar Meter neben mir landet der Rettungsring. Vorbildlich. „Ihr zielt immer neben die Person. Das ist kein Ringewerfen“, hatte Michaela uns in der Theoriestunde ermahnt. Ich werde liegend mit einer Art Rettungsnetz – einer Matte aus Kunststoffgliedern, genannt Jasons’ Cradle – geborgen. „Eine Rettung in aufrechter Position birgt immer die Gefahr des Bergungstods“, sagt Michaela: Bei einer Unterkühlung werden nur noch Kopf und Torso zum Erhalt der lebenswichtigen Organe mit Blut versorgt. Das Blut in den Gliedmaßen kühlt aus. Bringt man das Opfer dann in eine aufrechte Position, wird der Kreislauf wieder angeregt, das kalte Blut schießt aus den Gliedmaßen zum Herzen, was oft im Herzstillstand endet.
Branchenübergreifende Trainings
Zurück an Land stehen einige Bierbänke, Brötchen, Käse und heiße Würstchen bereit für die Offshore-Abenteurer. Sie kommen aus ganz unteschiedlichen Branchen – Windkraft, Öl und Gas –, selbst eine Meeresbiologin ist dabei. „Der Kurs ist zwar für Offshore-Wind gemacht, zuerst kamen aber Vertreter aus der Öl- und Gasindustrie“, sagt Michaela. Um den Bedarf aller zu decken, sind die Kurse modular aufgebaut – nur Leute aus der Windbranche bekommen etwa das Klettertraining. Auch ist die Flucht aus einem havarierten Helikopter entkoppelt vom Basis-Offshore-Training.
Zu den heutigen Teilnehmern aus dem Windsektor gehört Lutz Lehmann. Der Maschinenbau-Ingenieur war für TÜV Nord schon mehrfach als Inspekteur in Offshore-Windparks unterwegs, darunter Alpha Ventus und Baltic I. „Ich hab den Kurs vor ein paar Jahren über Google gefunden – seitdem komme ich regelmäßig zum Auffrischen.“ Dieses Mal hat er auch einen Kollegen mitgebracht, dessen erster Arbeitseinsatz auf See noch aussteht.
Für die TÜV-Experten und den Rest der Gruppe beginnt nun der letzte Seminarteil des Tages – Brandschutz in Theorie und Praxis. Ich darf mich ausklinken und von den Strapazen der Notfallübungen erholen.
Denny Gille
STICHWORT: Rüstzeug für die See
Bis 2020 wird der Offshore-Servicebereich allein in Europa ein Marktvolumen von mehr als einer Milliarde Euro erreichen, schätzt GBI Research. Wer daran mitverdienen will, muss sein Personal fit für die Arbeit auf See machen – ohne spezielle Sicherheitsausbildung darf kein Techniker die Offshore-Windparks ansteuern.
Neben der Standardausbildung eines Windkrafttechnikers für das Leisten von Erster Hilfe und das Arbeiten in großen Höhen sind vor allem zwei Sonderqualifikationen nötig: ein Basistraining für die Sicherheit auf See inklusive Notfall-Training – häufig als Bosiet bezeichnet – sowie ein Huet-Training, die Flucht aus einem notgewasserten Helikopter.
Da es für die Inhalte der Offshore-Sicherheitstrainings keine einheitlichen Standards gibt, können sie leicht variieren. Sie orientieren sich an Teilen des international gültigen SCTW-Übereinkommens für Training und Zertifizierung. Meist sind die Trainings angelehnt an die Standards aus der Öl- und Gasindustrie – auch sie variieren jedoch je nach Land. Die Bosiet-Grundausbildung dauert in der Regel drei Tage und beinhaltet neben den Schwimm- und Rettungsübungen mit Überlebensanzug theoretisches Wissen zum Verhalten in Notsituationen auf See und zur Brandbekämpfung. Ein Zertifikat ist drei Jahre gültig, danach muss es in einem Tageskurs aufgefrischt werden. Das Huet-Training findet meist an nur einem Tag in einer Helikopterattrappe im Schwimmbad statt.
Bosiet und Huet bieten neben Inasea (www.inasea.de) auch das Maritime Competence-Centrum (www.ma-co.de) in Hamburg, Falck Nutec (www.falcknutec.de) in Bremerhaven sowie die Deutsche Windguard (www.windguard.de) zusammen mit dem Marinen Kompetenzzentrum Marikom in Elsfleth an. Zusätzlich plant Ausbilder Offtec in Enge-Sande ein Sea-Survival-Trainings-Center, das Huet-Übungen sowie Überlebenstrainings in verschiedenen Wind- und Wellenszenarien ermöglichen soll.