Erstmals kam der in Deutschland verbrauchte Strom aus dem öffentlichen elektrischen Netz zu mehr als der Hälfte von Erneuerbare-Energien-Anlagen. Dies bilanziert die Bundesnetzagentur (BNetzA) für 2023. Tageweise, am 21. und 22. Dezember, speisten wetterabhängig unregelmäßig – Fachterminus: fluktuierend – erzeugende Wind- und Solaranlagen alleine gut 70 Prozent des Nettostroms ein, wie das Fraunhofer-Institut ISE belegt. Wohl kaum zu früh sollen ab sofort bis 2030 die Erneuerbaren schrittweise den fossilen Kraftwerken den Job abnehmen, Spannung, Frequenz und Stromqualität in den Leitungen zu gewährleisten. Dies gibt der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vor – und nun ein Fahrplan.
Wenn 2030 gemäß bundespolitischer Ziele der Netzstrom im Jahresmittel zu 80 Prozent grün ist, sollen die Erneuerbaren unsere elektrische Versorgung im Wortsinn selbst regeln. So heißt es in der „Roadmap Systemstabilität“, die das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) im Dezember präsentierte. Im Zusammenspiel mit den zur Energiewende wichtigen Stromspeichern, Wärmepumpen und Autoladesäulen müssen die Erneuerbaren dann alle sogenannten Stromnetz-Systemdienstleistungen liefern. Auf 115 Seiten legt der Fahrplan fest, wann welche Erneuerbaren-Technik und welche neuen Verfahren die Netzregelung bestimmen. Die Grünstromanlagen sollten mit ihrer speziellen Leistungselektronik „einen Beitrag zur Systemstabilität leisten“, der ab 2030 „signifikant“ sein muss.
Ein Jahr lang hatten gut 150 Personen aus mehr als 80 Unternehmen und Organisationen wie beispielsweise Netzbetreiber, Anlagenbauer, Verbände, Normungsgremien und Wissenschaftler an dem technologischen Regimewechsel gearbeitet. Unter der Leitung des BMWK definierten sie 18 Meilensteine und 51 zu erledigende Teilaufgaben.
80 Prozent Erneuerbare-Energien-Anteil im Stromnetz sieht die Politik für 2030 vor. Bis dann sollen die Erneuerbaren die wichtigsten Systemdienstleistungen zur Stabilisierung von Spannung, Frequenz und Stromqualität gewährleisten.
Sieben zentrale Systemdienstleistungen
Es ist ein eng getakteter Fahrplan für eine Vollumstellung der Stromversorgung. Sie soll schon 2024 Fahrt aufnehmen: weg von direkt regelbaren und regional bedeutsamen großen fossilen Kraftwerken hin zu Schwärmen kleinerer, dezentraler Grünstromanlagen mit fluktuierender Einspeisung. Sie müssen sieben zentrale Systemdienstleistungen übernehmen: die Frequenzstabilisierung und Spannungshaltung mittels Blindleistung, Momentanreserve oder Primärregelung, außerdem die Resonanzstabilität, der Kurzschlussstrom, die Winkelstabilität, Betriebsführung und Netzwiederaufbau.
Grob vereinfacht erledigen künftig unzählige Anlagen die Systemdienstleistungen mittels digitaler Steuerung oder Voreinstellung automatisiert. Entscheidend wird dafür eine neuartige Netzanbindung über Umrichter sein: Diese leistungselektronischen Geräte müssen die sich wetterabhängig unruhig abzeichnenden Spannungs- und Stromkurven zu Sinuskurven formen und so takten, dass es die Stromqualität stützt. Die meisten Erneuerbare-Energien-Anlagen sind schon mittels Umrichter am Netz. Bald sollen solche aber weit mehr können, als Leistung gut eintakten. „Netzbildende Stromrichter“ nennen die Roadmap-Autoren die erforderliche Technologie.
Als „Schlüsseltechnologie“ kennzeichnet sie Marco Greve. Er ist Geschäftsführer des Beratungsunternehmens EF Ruhr in Dortmund, das die Arbeit an der Roadmap im Dienste des BMWK zusammen mit der Deutschen Energie-Agentur moderiert hatte. Greve verweist auf Systemdienstleistungen, die netzbildende Stromrichter im Unterschied zu den bisherigen nur „netzfolgenden“ Stromrichtern womöglich schon bald leisten werden. Tatsächlich gibt die Roadmap einen frühen Start für gleich drei Systemdienstleistungen vor, auf die Netzbetreiber über spezielle Beschaffungsmärkte zugreifen sollen. So verlangt die Roadmap, die „marktgestützte Beschaffung der Blindleistung“ 2024 und die „marktgestützte Beschaffung der Momentanreserve“ 2025 einzuführen. Auch die Entwickler einer Methodik, um auftretende Kurzschlussströme nach Spannungseinbrüchen im Netz zu bewerten, sollen sofort an die Arbeit gehen und zunächst den Bedarf an Kurzschlussstrom im Verteilnetz analysieren. Wenn sie 2026 oder 2027 damit fertig sind, soll die BNetzA die Beschaffung für gegebenenfalls noch benötigten weiteren Kurzschlussstrom regeln.
Für Blindleistungen soll die Agentur schon im ersten Quartal das Verfahren eines Beschaffungsmarktes festlegen. Danach könnte „den betroffenen Netzbetreibern der Hoch- und Höchstspannungsebene eine Umsetzungsfrist von zwölf Monaten eingeräumt werden“, deutet die BNetzA auf Anfrage von ERNEUERBARE ENERGIEN an. Das Verfahren für die Momentanreserve soll sie 2025 nachlegen.
Blindleistung ist eine im Netz mitschwirrende Elektrizität, die anders als die reine Wirkleistung keine Geräte antreibt, jedoch für den Aufbau des elektrischen Magnetfeldes und die Spannungshaltung über längere Leitungsstrecken notwendig ist. Netzbildende Umrichter können Blindleistung durch Gegeneinander-Verschieben der Spannungs- und der Stromkurve dosieren. Momentanreserve ist ein dämpfender Effekt. Steigt die Einspeisung kurzfristig zu stark im Vergleich zum Verbrauch an, bremsten bisher die Dampfturbinen konventioneller Kraftwerke durch ihre Trägheit die ansteigende Frequenz fast sekundenlang ab. Oder sie schoben bei plötzlich stark erhöhtem Verbrauch und absinkender Frequenz durch ihre Trägheit Leistung nach. Netzbildende Umrichter ließen sich womöglich dahin entwickeln, dass sie diesen Effekt nachbilden, um auch mit Windrotoren den Trägheitseffekt zu erzeugen. Oder sie könnten von selbst kurz Leistung erhöhen.
Zertifizierung in Vorbereitung
Damit klar wird, welche Erneuerbare-Energien-Anlagen an den Beschaffungsmärkten teilnehmen können, muss die Branche sehr schnell Zertifizierungen entwickeln. Das Itzehoer Elektroingenieurdienste-Unternehmen MOE arbeitet in der Branchen-Organisation FGW für Einspeise- und Zertifizierungsrichtlinien mit. Sobald der Elektrotechnikverband VDE einen Anforderungskatalog für die verlangten Fähigkeiten netzbildender Stromrichter vorlegen wird, dürfte die FGW die Prüfkriterien für eine Zulassung der Stromrichter für die Beschaffungsmärkte schreiben müssen. Gerade bei der Momentanreserve ist aber aktuell noch nicht klar, inwiefern diese ein vollständiges Zertifizierungsverfahren erfordert, oder ob die Branchengremien andere Eignungsnachweise zulassen wollen. Bisher hat der VDE einen nicht bindenden Hinweis für ein „Netzbildendes und Systemstützendes Verhalten von Erzeugungsanlagen“ veröffentlicht.
Im Detail dürfte die Regelung für so manche Systemdienstleistung allerdings komplex ausfallen. Denn schon die nach der Momentanreserve künftig vielleicht notwendige „P(f)-Regelung“ muss vermeiden, dass Grünstromanlagenschwärme in örtlichen Netzbereichen sich zu Überreaktionen hochschaukeln. Der Hintergrund: Anlagen können durch diese Regelung die Dämpfung durch die Momentanreserve ein wenig verlängern, indem sie elektrische Leistung (physikalische Größe: P) als Regelenergie schon nach Millisekunden entlang einer Kennlinie gegenläufig zur sinkenden oder steigenden Frequenz (f) anpassen – bis im Markt eingekaufte Primärregelenergie zur Verfügung steht. Würden sich aber zu viele Erneuerbaren-Anlagen am Netzverknüpfungspunkt so verhalten, könnte die P(f)-Regelung über das Ziel hinausschießen. Dagegen wäre denkbar, dass es künftig einen Standard geben wird, der diese P(f)-Regelenergie nach situativen und lokalen Gegebenheiten dosiert. Und bei der Momentanreserve ist noch technische Entwicklungsarbeit zu erledigen. „Parallel zur Entwicklung von Nachweisverfahren müssen die Hersteller entsprechende Regelverfahren entwerfen, um die Momentanreserve anbieten zu können“, sagt Busboom.
Von sofort an bis Ende 2025 sollen die Netzbetreiber außerdem parallel in großflächigen Feldtests die Ernstfälle durchspielen, heißt es außerdem in der Roadmap. Wie funktionieren zum Beispiel netzbildende Stromrichter in örtlichen Verteilnetzen? Wie lassen sich Netz- und Versorgungsaufbau nach Spannungseinbrüchen künftig bewältigen? Welche Akteure am Netz müssen welche Haftungsrisiken tragen und für entstehende Schäden zahlen?
51 Teilaufgaben gibt die Roadmap Systemstabilität für den Systemwechsel auf, um von der Gewährleistung der Systemstabilität des Stromnetzes durch konventionelle Kraftwerke zur Regie durch Erneuerbare-Energien-Anlagen zu gelangen.
Systembestandteile in Echtzeit simulieren
Wichtiges Instrument fürs Testen könnte die sogenannte Co-Demonstrationsplattform des Kopernikus-Forschungsprojektes Ensure werden. Die vom Bundesforschungsministerium bezuschusste Energiewende-Forschungsreihe Kopernikus zielt durch das mit 100 Millionen Euro dotierte Ensure-Projekt aufs Stromnetz der Zukunft.
Beim Ensure-Industriepartner Siemens entwickeln die Beteiligten nun eine digitale Simulationsebene, auf der sie sehr unterschiedliche Feldtests an verschiedensten Bestandteilen des Netzes zueinander in Beziehung setzen können. „Wir müssen das Kunststück hinbekommen, sehr große Netzbereiche und kleine leistungselektronische Bauteile in Echtzeit in ihren Reaktionen aufeinander zu beobachten“, sagt Gesamtprojektleiter Max Dauer von Siemens. Auch die Schwarzstartfähigkeit von netzbildenden Stromrichtern, die ohne Netzspannung kleine Teilnetze wieder aufbauen, wäre ein wichtiges Simulationsprojekt, deutet Dauer an.
Immerhin sind die Simulationsziele Schwarzstartfähigkeit einerseits und Kosten- oder Haftungsverteilung andererseits noch 2025 als Meilensteine vorgesehen: Bis Ende nächsten Jahres müssen die zugelassenen Schwarzstartanlagen ausgewiesen und wichtige Kosten- und Haftungsfragen geklärt sein. Auch technische Regeln für zusätzliches Zu- oder Abschalten von Speichern, Verbrauchs- oder Erzeugeranlagen müssen bis dann stehen.
Das Ziel ist eine klug abgewogene Regulierungskunst. Manche Systemdienstleistungen werden die Netzbetreiber kostengerecht über Beschaffungsmärkte besorgen, manche werden die Netzbetreiber durch Netztechnik direkt erzeugen. Kostenlos mögliche Systemdienstleistungen – etwa, dass sich Erneuerbare-Energien-Anlagen im Netzfehlerfall nicht automatisch abregeln – müssten hingegen zum vorgeschriebenen Standard werden. Die Effizienz der Regelungen wird regelmäßig überprüft. „Dieses Thema war lange heiß diskutiert und kommt jetzt auf die Straße“, sagt Moderator Greve.
Zugleich verweist er auf „drei kritische Pfade“, auf denen die am Konzept des neuen Systems offiziell beteiligten Akteure vorankommen müssen: Notwendige Sicherheitsniveaus definieren und den Bedarf an Systemdienstleistungen bestimmen, diesen Bedarf abdecken und netzbildende Stromrichter als Standard etablieren. Die Herausforderung bestehe vor allem im Verteilnetz, sagt Greve, wo es wenig Erfahrungen mit dem Abrufen der Umrichter-gestützten Systemdienstleistungen gibt.
Ab 2026 sieht die Roadmap eine nicht so benannte zweite Phase vor. Demnach werden 2026 und 2027 die Fähigkeiten der Technik sowie der Bedarf an Systemdienstleistungen bekannt sein. Auch das im Netz angestrebte Sicherheitsniveau muss klar sein. Die Rollen- und Aufgabenverteilung beim Versorgungswiederaufbau muss feststehen. Im Folgejahr soll die Branche die Erfahrungen mit netzbildenden Stromrichtern dokumentieren und ein Bewertungsverfahren für Kurzschlussstrom zur Hand haben. Und 2027 soll ein vierjähriger Prozess starten, in dem die Netzbetreiber gestaffelt nach Spannungsebenen nach und nach ihre Anschlussregeln in Kraft setzen und Blindleistung von einer zur nächsten Netzebene gezielt verschieben können, in Echtzeit den Netzzustand kennen sowie automatisiert Systemdienstleistungen dynamisch anpassen. 2030 folgt noch ein Bewertungsverfahren für Resonanzstabilität.
Ab 2027 weitere knifflige Aufgben
Dass bis zuletzt noch knifflige Herausforderungen zu bewältigen sind, daran lässt Bernd Weise keine Zweifel. Der Berater für Erzeugungs- und Stromrichteranlagen-Modellierung der schwäbischen Digsilent GmbH gehörte der Roadmap-Arbeitsgruppe „Winkelstabilität, Resonanzstabilität, Kurzschlussstrom“ an. Wo die Netzspannung aufgrund eines Kurzschlusses einbricht und der elektrische Widerstand auf Null geht, soll Kurzschlussstrom die Leitungen fluten – was den Ort des Netzfehlers und damit den Schaden aufspürbar macht. Die Regelung des Wechselrichters muss dann so wirken, dass ausreichend und nicht zu viel Strom ins Netz gelangt. Winkelstabilität wiederum ist eine Fähigkeit der Umrichter, im ungestörten Netzbetrieb ebenso wie auch beim Durchfahren von Netzfehlern die Spannung und den Strom im richtigen Winkel zu den Sinuskurven der Netzspannung einzuspeisen und dabei synchron zum Netz zu bleiben oder synchronisierend zu wirken. Resonanzstabilität bedeutet, dass die Wechselrichter nicht zu stark auf mitrauschende elektrische Schwingungen reagieren.
Immer, so erklärt es Weise, müssen die Umrichter aber in einem großen Frequenzbereich dämpfend wirken – und nicht bei zeitgleich im selben Netzbereich sehr vielen einspeisenden Umrichtern schwingende Überreaktionen erzeugen. Die Roadmap schlägt vor, Aggregationssysteme einzuführen: Instrumente, die ähnlich virtuellen Kraftwerken viele der Erneuerbaren-Anlagen, Speicher und steuerbaren Lasten insbesondere beim Netz- und Versorgungswiederaufbau zu virtuellen Kraftwerken zusammenzufassen und digital zu steuern.
„Dieses Thema kommt jetzt auf die Straße.“
Chancen im Systemdienstleistungsmarkt
Wie Erneuerbare-Energien-Unternehmen in der Praxis die Systemstabilitätregelung auch als Chance wahrnehmen, erklärt VSB aus Dresden. Die sächsischen Projektentwickler und Grünstromerzeuger setzen auf ganzheitliche Versorgung, kombinieren Photovoltaik und Windkraft, integrieren in die Anlagenparks Strom- oder Wärmespeicher und koppeln sie mit Stromtankstelle und Wärmenetz.
Es sei umso besser, „je früher Marktkriterien und Märkte selbst für Systemdienstleistungen eingeführt sind“, teilt VSB in Bezug auf die Blindleistung mit. Für Erneuerbare-Energien-Projekte in frühen Planungsphasen könne auch die Momentanreserve als marktwirtschaftliche Leistung schon interessant sein. Wichtig sei, dass die Marktstrukturen frühzeitig sichtbar werden, um sie in der Projektplanung zu berücksichtigen.
Systemstabilität
Roadmap Systemstabilität heißt der Fahrplan, den jetzt das Bundeswirtschaftsministerium präsentierte. Er sieht bis 2030 die schrittweise Umstellung der physikalischen Stromnetzregie vor. Erneuerbare sollen den Job der alten Kraftwerke übernehmen, Spannung, Frequenz und Stromqualität im Netz zu gewährleisten.