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Kommentar

Neuer Tanz ums Atom

Seit Jahren debattiert die deutsche Politik über die Atomkraft. Auch in der Schweiz hüpft die Atomkraft immer mal wieder wie Kai aus der Mottenkiste. Dabei sind die Fronten relativ klar. Auf konservativer Seite stellt man sich eine Welt mit bombensicheren Kernkraftwerken vor – vom Energiekonzern oder dem Staat zentral gesteuert und den Strom von Bürger:innen und Industrie verbraucht.

So ist der AfD ohnehin jegliche fortschrittliche Solar- und Windkrafttechnik ein Teufelswerk. Aber auch in der Union gibt es jede Menge beratungsresistente Fossilien, die an der Atomkraft festhalten wollen. Selbst bei den Freidemokraten des Christian Lindner stößt die Freiheit der Bürger an den Renditeerwartungen der großen Atomkonzerne an ihre Grenzen. Allen gemein ist, dass der Begriff Freiheit in Sachen Energiepolitik vor allem für die Großkonzerne gilt und nicht für die Bürger:innen.

Zwei Reaktoren innerhalb von zwei Jahren ans Netz gegangen

Nun ruft auch noch die Internationale Energieagentur (IEA) mit Sitz in Dubai die Renaissance der Atomkraft aus. Eine Wiedergeburt soll es werden, angeblich sauber, sicher und vor allem billig. Wir sind gespannt, wie sich das in die Realität umsetzen lässt. Denn Fakt ist, dass immer mal wieder neue Kernkraftprojekte gestartet werden – und in Europa sind auch 2023 in Finnland und 2024 in Frankreich endlich mal wieder eines davon fertig geworden. Wobei diese Anlage in Flamanville noch im Probebetrieb ist und noch vor dem Regelbetrieb schon in die Revision muss, weil der Reaktordeckel schon bröckelt.

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Doch ob diese Anlagen tatsächlich irgendwann mal ans Netz gehen, ist noch längst nicht klar. Sicherlich ist in Europa etwa der dritte Meiler in Hinkley Point inzwischen am Point of no return angekommen. Und auch in China werden sicherlich tatsächlich einige Projekte umgesetzt.

Anlagen entstehen vor allem in China und Russland

Doch wenn man den Blick auf Europa konzentriert, fühlt sich die Renaissance eher wie ein Rohrverrecker an. Bis 2030 sind hier nur acht Prozent der aktuellen Kernkraftwerkprojekte angekündigt. Satte 60 Prozent der geplanten Leistung entstehen in China und in Russland. Immerhin soll danach zwischen 2031 und 2035 gut ein Viertel der Kernkraftwerknachfrage auf Europa entfallen, um danach bis 2040 wieder auf einen Anteil von 22 Prozent am Weltmarkt abzufallen.

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Doch auch insgesamt fällt die Bilanz mager aus. Denn die Kraftwerksleistung, die in Europa zur Konstruktion bis 2050 angemeldet ist, reicht gerade mal aus, um bis 2050 die Reduzierung der Atomstromproduktion seit 2010 wieder auszugleichen, wie der VDI in einer Analyse der Zahlen der IEA zeigt.

Atomstromanteil sinkt trotz Zubau

Die deutschen Ingenieure haben die Zahlen aufgedröselt: In den Jahren 2010 bis 2023 ist die Atomstromproduktion in Europa von 864 auf 616 Terawattstunden jährlich gesunken. Wenn alle angekündigten Kernkraftprojekte bis 2050 fristgerecht umgesetzt werden, würde die Atomstromproduktion in Europa wieder auf 860 Terawattstunden ansteigen. Bis dahin wird aber auch der Stromverbrauch aufgrund der Sektorkopplung wieder anwachsen, sodass der Anteil der Kernkraft am gesamten Strommix trotz aller Anstrengungen von derzeit 23 auf 15 Prozent sinkt.

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Auch weltweit wird dann der Anteil des Atomstroms bei den neun Prozent verharren, die die Kernkraft auch jetzt schon hat. Denn der Zubau der Kraftwerkskapazitäten würde durch den um den Faktor 2,36 steigenden Strombedarf wieder aufgefressen.

86 Prozent Ökostrom prognostiziert

Zum Vergleich: Die erneuerbaren Energien haben in Europa inzwischen einen Anteil von fast 50 Prozent an der Stromerzeugung. Und dies wird weiter wachsen. So rechnet der VDI, dass allein die Photovoltaik zwischen 2023 und 2050 von fünf auf 40 Prozent der weltweiten Stromerzeugung kommt. Der Anteil der Windkraft wächst im gleichen Zeitraum von acht auf 26 Prozent. Damit würden diese beiden Technologien allein zwei Drittel der steigenden Stromnachfrage abdecken. Dazu kommen noch die anderen Erneuerbaren-Technologien. Insgesamt liefern 2050 die Ökostromanlagen 86 Prozent des Stroms, der weltweit verbraucht wird.

Zehn Prozent der Anlagen schaffen es nicht ans Netz

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch das österreichische Energieministerium in einer Studie aus dem vergangenen Jahr. Auf Basis der Daten der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA und des World Nuclear Industry Status Report (WNISR) haben die österreichischen Analysten ausgerechnet, dass bis 2050 jedes Jahr mindestens zehn neue Reaktoren in Betrieb gehen müssten, um die Leistung auszugleichen, die bis dahin vom Netz genommen wird. Zum Vergleich: Zwischen 2004 und 2023 wurden fünf Reaktoren pro Jahr errichtet. Doch es ist immer wieder fraglich, ob das überhaupt alle geplanten Reaktoren schaffen. Denn nach Angaben der Österreicher wurde in der Vergangenheit jeder neunte Reaktorbau vor der Fertigstellung eingestellt.

Nun könnte man einwenden, dass dann eben mehr Kernkraftwerke gebaut werden müssten. Doch so einfach ist das nicht. Das ist nämlich auch eine Kostenfrage. So ist der Atomstrom gar nicht so billig, wie es uns die Kernkraftbefürworter in der Politik weismachen wollen.

Atompreisschock in Frankreich

Den französischen Kernkraftkund:innen steckt jetzt noch der Schock in den Gliedern, als der Staat die Strompreise 2023 und 2024 insgesamt um 39 Prozent anheben musste, damit die Verschuldung des Kraftwerksbetreibers Électricité de France (EDF) nicht komplett aus dem Ruder läuft, wie das Internationale Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR) mitgeteilt hat.

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Sicherlich hatte dies auch etwas mit der allgemeinen Preiserhöhung durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu tun, die mit der Nichtverfügbarkeit von Kernkraftwerken aufgrund einer großangelegten Sanierung der Flotte der EDF zusammenfiel. Doch die Schuldenlast von insgesamt 64 Milliarden Euro drückt auf die Bilanz.

Atomstrompreis steigt weiter

Zudem steht jetzt schon im Raum, dass der Beschaffungspreis für Atomstrom in Frankreich von den derzeit niedersubventionierten 4,2 auf sieben Cent pro Kilowattstunde steigen soll – auch um den Schuldenberg der EDF nicht weiter anwachsen zu lassen. Doch bei sinkenden Börsenpreisen ist unklar, wie dieser Atomstrom dann noch konkurrenzfähig sein soll. Denn wenn der Einkaufspreis an der Börse unter sieben Cent pro Kilowattstunde sinkt, wird der Atomstrom dort zum Ladenhüter.

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Ohne staatliche Hilfen geht es nicht

Entsprechend müsste dann der Staat – und damit die Steuerzahler – wieder einspringen. Dass es kaum ohne staatliche Unterstützung geht, zeigen auch die Daten der IEA. Denn bei der Finanzierung der neu geplanten Reaktoren schießen die Staaten mindestens die Hälfte der Kosten zu. So zeigen die Zahlen der IEA, dass von den gut 700 Milliarden US-Dollar, die für den Bau der Atomkraftwerke in den Industrieländern nach derzeitigen Kalkulationen notwendig sind, knapp 400 Milliarden durch staatliche Energieunternehmen bereitgestellt werden. Mit freier Wirtschaft hat dies nichts mehr zu tun.

Dabei fließen aus den verschiedenen Steuertöpfen insgesamt 280 Milliarden US-Dollar in die Projekte. Weitere etwa 210 Milliarden kommen von kommerziellen Unternehmen. Der Rest sind Schulden. Ob unter diesen Umständen das Geld nicht bei Speichern und der intelligenten Steuerung von Stromnetzen besser aufgehoben wäre, steht zumindest dann als Frage im Raum.

Kleine Meiler für große Tech-Bros

Die IEA konzentriert sich bei ihrer Bilanzierung aber nicht nur auf die großen Projekte. Vielmehr setzt sie auf die kleinen modularen Reaktoren, die zwar jeder einzeln für sich weniger Leistung liefern, aber schneller aufgebaut werden könnten. Wenn sie denn schon in der Realität existieren würden. Bisher sind allenfalls Vorverträge und Absichtserklärungen beschlossen, wie ein Blick in die Liste der IEA zeigt.

Hier tun sich vor allem die Tech-Konzerne hervor, die mit dem Atomstrom ihre KI-Entwicklungen versorgen wollen. Diese Blase ist aber in dieser Woche geplatzt, als eine chinesische KI-Anwendung veröffentlicht wurde, die nicht mit Hochleistungschips, jeder Menge Geld und Strom zugekleistert werden muss, um zu funktionieren. Die Werte der amerikanischen Energieanbieter sind entsprechend erst einmal in den Keller gerauscht. Ob diese Absichtserklärungen dann noch Bestand haben, wird sich zeigen.

Sven Ullrich ist freier Journalist.

Heiko Schwarzburger

Sven Ullrich ist freier Journalist.