Ernsthaftigkeit ist hier versammelt. Das ist dem Beobachtenden sofort klar, der die 38 jungen Menschen in diesem Moment im Azubi-Schulungsraum der Deutsche Windtechnik beim Schauen des Imageclips über das Bremer Windpark-Wartungsunternehmen wahrnimmt. Die 35 männlichen und nur drei weiblichen Nachwuchskräfte haben gerade ihre Ausbildung zum Mechatroniker beim größten unabhängigen deutschen Windturbinen-Serviceunternehmen begonnen. Nun sind sie aus zwei Ausbildungsregionen zur Kennenlernwoche in die Zentrale an der Weser gekommen. Die Stimmung hat wenig von der einer Berufsschulklasse. Die Auszubildenden verfolgen die filmische Selbstdarstellung ihres Arbeitgebers, ohne ein Hüsteln hören zu lassen oder gar zu tuscheln.
2x Verdoppeln im Fünf-Jahres-Takt lautet bei Deutsche Windtechnik die Faustregel zum Belegschaftswachstum. Aktuell sind es 2.300 Beschäftigte.
Um 2.300 weitere anzustellen, müssten die Bremer jährlich 460 Menschen einstellen.
Deutsche Windtechnik setzt auf derart motivierten Nachwuchs. 114 Mechatroniker, 27 Kaufleute im Büromanagement und als weitere Spezialisten sechs Lagerfachkräfte, drei Informatiker für Systemintegration, zwei Feinwerkmechaniker und einen IT-Administrator bildet das Unternehmen in Bremen, Viöl und Rendsburg in Schleswig-Holstein, Osnabrück und Erkelenz aktuell aus. Aufgrund des steten Windturbinenzubaus seiner Kernmärkte und insbesondere Deutschlands rechnet das Management mit genug neuen Wartungsverträgen, um die Belegschaft in Fünf-Jahres-Schritten zu verdoppeln. Zu heute 2.300 Mitarbeitern müsste es demnach nun jährlich 460 neue einstellen.
Die Ausstattung von Windkraft- aber auch Photovoltaikunternehmen mit genug geeigneten Frauen und Männern, die das Potenzial an Aufträgen einwerben, die Projekte planen und die neuen Aufträge abarbeiten können, ist rein statistisch betrachtet unmöglich. So hatte das Kompetenzzentrum Fachkräfte (Kofa) beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln 2022 errechnet, dass schon 2021 die Solar- und Windkraftbranche unter einer Unterdeckung von 216.000 Fachkräften litt – bei ungefähr derselben Menge an aktuell Beschäftigten. Zu im Jahresmittel sogar 440.000 offenen Stellen verzeichneten die Arbeitsämter in den gesuchten Berufen beider Branchen nur 291.000 Arbeitssuchende. Wobei viele Jobsuchende mit ihren Profilen nicht zu den Profilen der Stellenangebote passten. Die Zukunftsaufgabe Energiewende trifft auf geburtenarme Jahrgänge. Mathematisch scheint hier keine Beschäftigungsformel mehr aufzugehen.
Deutsche Windtechnik selbst hatte kurz vor Anreise der Auszubildenden zu Ende August 586 Stellenanzeigen im Umlauf. Nach einer einmal im Jahr zwischen dem Management und den Führungskräften festgezurrten neuen Stellenplanung schreibt das Unternehmen die Jobs oft zwei bis drei Monate vor der geplanten Besetzung aus. 360 Stellengesuche richtete es Ende August alleine an Berufserfahrene. In Wahrheit sind das immer öfter Quereinsteigende: „Weil es die erfahrenen Elektroniker oder Mechatroniker oder IT-Kräfte auf dem Markt oft nicht genügend gibt, haben wir unsere Anforderungen bei den Einstellungskriterien teilweise angepasst und qualifizieren Quereinsteiger individuell nach“, sagt der Deutsche-Windtechnik-Vorstand Matthias Brandt. Soll heißen: Während das Unternehmen auch Techniker mit Erfahrung für bestimmte Windturbinentypen suche, dürfen es dagegen schon mal Zimmerer, Maurer, Gas-Wasser-Installateure sein. Oder, falls jemand mit einer Programmiersprache an einer spezifischen Steuerung in einer Windturbine umgehen muss, Personen, die „schon mal was mit Programmierung notfalls in ganz anderen Fällen zu tun gehabt haben“. Fast die Hälfte der Neueinstellungen sind schon Berufsfremde.
Personalsuche nach Charaktereignung
Das Rezept guter Rekrutierung der Bremer ist dasselbe wie bei manch anderem in der Windbranche, Neueinsteiger nach charakterlicher Eignung zu holen. „Wir suchen Menschen“, sagt der Vorstand. „Manchmal ist deren Motivation dann mehr wert, als viele und doch nicht alle fachlichen Voraussetzungen zu erfüllen“. Bei den danach erforderlichen individuellen „weit ausgreifenden Umschulungen“ kommt „Hannas Campuswelt“ ins Spiel, wie es Brandt nennt. Seit einigen Monaten lässt das Wartungsunternehmen eine „Campus“ genannten Bereich in enger Absprache mit den Führungskräften nach Weiterbildungswegen suchen. Hanna Dudda leitet den Campus mit drei Mitarbeiterinnen. Sie arbeitet mit einer ebenso neuen kleinen Einheit fürs „strategische Recruiting“ zusammen, der ihre Kollegin Jorina Drischmann angehört. Diese entwickelt Anwerbekampagnen über soziale Internetplattformen. Und sie bereitet einen neuartigen Rekrutierungstag vor, zu dem die Agentur für Arbeit und ein Fortbildungsträger mit Experten kommen und Interessierten die Qualifizierungswege und Chancen erklären werden. Dudda entwickelt derweil Qualifizierungsprofile. So hat die Campus-Einheit mit der Bahn in Bremen eine gemeinsame Lehre von 14 der 38 Mechatroniker in einem Bahnwerk organisiert. Das Qualifizieren ist aber oft auch individuelles Nachsteuern – so beim „Bäckermeister mit gutem mechanischem Gefühl, dem wir durch ein Bildungsinstitut nun Elektrotechnik beibringen“, sagt Dudda.
Auch wenn sich die Kofa-Statistik hinterfragen ließe, weil ihre auf Hochrechnungen basierenden Daten nahelegen, dass die Firmen doppelt so viel Personal in Windkraft- und Solarbranche suchen, wie sie heute beschäftigen: Der Bedarf an Nachwuchs und Quereinsteigern ist hoch. In einer Branchenabfrage des Bundesverbands Windenergie von 2021 hatten 96 Prozent erklärt, Personal zu suchen. Zwar wollten nur 34 Prozent auch Quereinsteigende suchen, 81 Prozent dagegen sogar mehrjährig Berufserfahrene. Allerdings waren 98 Prozent bereit, Menschen aus ganz anderen Branchen einzustellen. 57 Prozent wollten Absolventen und Absolventinnen frisch aus Uni und Lehre.
Führungs- und Firmenkultur sind in dieser Rekrutierungskunst zwei Schlüssel, heißt es bei den Instandhaltern an der Weser. Dabei zählt gemäß Brandt der gemeinsame Code of Conduct: ein partizipativer Stil, der die Mitarbeitenden mitgestalten lässt. Um zu klären beispielsweise, wie eine künftig effizientere Organisation der Haupt-Instandhaltungssparte funktionieren soll, riefen zwei Führungskräfte organisiert über größere Telefon- oder Videocall-Runden alle 900 Mitarbeitenden an. Dieses sogenannte Employer Branding erklärt Brandt den Azubis so. „Profitabel wollen wir sein, top Instandhaltung liefern, radikal ehrlich und natürlich flexibel“, sagt er. Doch wie das Unternehmen das in der Praxis ausbuchstabiere, müssten die Neuen testen: „Ich will euch herzlich einladen, die Unternehmenskultur zu prägen“, sagt Brandt.
98 Prozent der Antwortenden einer Unternehmensumfrage des Bundesverband Windenergie sind bereit, Quereinsteiger aus ganz anderen Branchen einzustellen. Diese kommen dort zum Zuge, wo sie grundsätzliche Fähigkeiten aus anderen Berufen und gute Charaktereigenschaften zum angebotenen Job mitbringen.
Was die Neuzugänge motiviert, ist höchst unterschiedlich. Aber die Motivation ist grundsätzlich groß. Vincent Najjar und Thilo Ruck haben sich soeben kennengelernt – und viel gemein. Najjar, 23 Jahre alt, pendelt von nun an von seinem Wohnort Zeven zur Ausbildungsstätte in Bremen, um Mechatroniker für Windparkservice an Land zu lernen. Ruck, 28, aus Münster, ist in eine Azubi-Wohngemeinschaft nach Husum gezogen, um Meereswindpark-Mechatroniker zu werden. Najjar hat eine Ausbildung als Polizist quittiert, weil ihm die Risiken dieses Berufs zu heikel waren – die Risiken einer Arbeit teils auf dem Dach sehr hoher Windturbinen schätzt er für sich weit geringer. Im Juni kündigte er. Im Juli hatte er den Job. Ruck hat Maschinenbauingenieur studiert, was ihm nicht nah genug an der Praxis erschien. Er suchte etwas Herausforderndes und den guten Rhythmus zwischen Durcharbeiten und langer Freizeit. „Zwei Wochen Einsatz, zwei Wochen frei, das gibt es auf Ölplattformen und in Offshore-Windparks – und ich entschied mich lieber für die Erneuerbaren“, sagt Ruck.
Ich will euch herzlich einladen, die Unternehmenskultur zu prägen.
Auch eine Frau will in die See. Sie suche das Abenteuer, sagt Vanessa Köver. Die 22-Jährige lernt nun Offshore-Mechatroniker im Ausbildungszentrum Viöl, wohnt nahe dran in einer Wohngemeinschaft mit anderen Azubis. Sie hat Geophysik studiert, um durch Klimawissenschaft etwas gegen den Klimawandel zu tun. Wie Ruck wollte sie dann aber weg vom Schreibtisch, rein in echten Wind im echten Wetter – und wählte den zweiwöchigen Rhythmus von Arbeit auf See und „Zeit für Privates“ zu Hause. Dass sie viel alleine unter Männern sein wird, schreckt sie nicht. „Irgendeine Frau muss ja damit anfangen, damit die Crews weiblicher werden“, sagt sie. Lotta Schäfer wiederum ist schon im zweiten Lehrjahr als angehende „Kauffrau für Büromanagement“ und darf die Neuen heute mit begrüßen. Sie hatte sich sehr spontan für eine Bewerbung entschieden. Zwei Wochen, nachdem sie sich im Juni voriges Jahr über ein Online-Modul gemeldet hatte, durfte sie sich vorstellen, um im August 2023 zu beginnen.
Personal aus dem Ausland
Auch Anwerbungen im Ausland dürften wichtiger werden, um den Personalhunger der Windkraft zu stillen. Deutsche Windtechnik wirbt an, wo das Unternehmen mit Serviceeinheiten vertreten ist: in Polen und perspektivisch vielleicht in der Ukraine, in Schweden, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und Norwegen – sowie außerhalb Europas Taiwan und USA. Ab sofort kann das Unternehmen sie in Kooperation mit der Handelskammer Bremen in Deutschland auf Englisch zur Elektrofachkraft prüfen lassen. Ein Novum.
Darüber hinaus rekrutieren und entwickeln wir Personal zunehmend flexibler, indem wir uns stärker skillbasiert ausrichten und damit einen bereichsübergreifenden Ansatz fördern.
Wesentliche Herausforderung fürs Gros der Windenergieunternehmen ist die an- und abschwellende Bautätigkeit, die von Politikwechseln, Lieferengpässen und Investorenlaunen abhängt. Weil aber klar ist, dass das Geschäft mit Windparks wächst, müssen die Firmen sich trotz zwischenzeitlicher Entlassungen um neues Personal kümmern. Windturbinenbauer Enercon etwa bildet mit 158 Azubis ebenfalls viel aus, bei allerdings weltweit 13.000 Mitarbeitern. Dafür lehren die Ostfriesen umso spezifischer: Mechatroniker, Elektroniker für Betriebstechnik, Metallbauer, neuerdings Industriemechaniker, Fachinformatiker für die Anwendungsentwicklung und auch für Systemintegration zum Beispiel. Außerdem ermöglichen sie ein duales Elektrotechnik-Studium für technische Informatik oder Energietechnik. Dennoch erwartet der Windturbinenbauer, dass es enger wird unter der für die Branche immer dünneren Personaldecke: „Der Fachkräftemangel wird zu einer der größten Herausforderungen für unser Unternehmen.“
Der baden-württembergische Energiekonzern EnBW, zunehmend auch im Offshore-Windparkbau tätig, versucht „Entwicklungs- und Rekrutierungsbedarfe der nächsten fünf Jahre vorausschauend zu planen“. EnBW belegt im Ranking „Best Recruiter“ Platz zwei unter den Energieunternehmen. Dabei setzen die Badener und Schwaben ebenfalls weniger auf von vornherein die für den Job qualifizierenden Fertigkeiten, sondern auf Charakterliches. Zudem sollen die Neuen ihre Fähigkeiten über die Grenzen der traditionellen Arbeitsbereiche hinweg einbringen können: Über die klassische Personalstrategie „hinaus rekrutieren und entwickeln wir Personal zunehmend flexibler, indem wir uns stärker skillbasiert ausrichten und einen bereichsübergreifenden Ansatz fördern“, teilt EnBW mit. Bedarfsspitzen deckt EnBW durch Leiharbeiter ab. Um keine an Mitarbeit Interessierten im Bewerbungsprozess an Wettbewerber zu verlieren, gab EnBW im vergangenen Jahr schon drei bis vier Tage nach dem Vorstellungsgespräch die Rückmeldung.
Fortbilder schulen seltene Fähigkeiten nach
Die Fortbildungsanbieter wiederum konzentrieren sich teils darauf, die besonders seltenen beruflichen Fähigkeiten nachzuschulen. So startet die Essener KWS Energy Knowledge zusammen mit dem Sicherheitsschulungs-Dienstleister Windhunter eine Fortbildung von 60 Windkraftfachkräften für eine elektrotechnische Qualifikation. Weil gemäß KWS-Windenergieexperte Christian Jaffke die Windpark-Serviceteams häufig sich selbst nur mit „elektrotechnisch unterwiesenen Personen“ nach zweitägiger Schnellschulung als Hilfskräfte verstärken können, starten die Essener ihre Offensive.
An mindestens zehn Schulungstagen oder bis zu zwölf Wochen lang bilden sie Menschen zur Elektrofachkraft fort. Zudem bereitet KWS Energy Knowledge für einen Energiekonzern eine spezifische Fortbildung für Wind-Mechatroniker vor.
Flexibles, schnelles Wachsen will indes firmenintern gut organisiert sein. Bei Deutsche Windtechnik haben Mitarbeitende keine eigenen Büros oder Werkstattplätze. Wer im Büro in Bremen arbeiten will, bestellt sich Platz. 130 Mitarbeitende wechseln sich so in den Glasbüros auf zwei Etagen ab. Umzugskartons in den Gängen künden auch davon, dass Deutsche Windtechnik in ein auf dem Nachbargrundstück gerade neu entstandenes größeres Gebäude umziehen wird. Die Onshore-Monteure haben ihren Arbeitsplatz auf der Windturbine oder in einem der gut 600 firmeneigenen Einsatzwagen. Kommen sie zu Sicherheitstrainings in die Trainingszentren der Deutschen Windtechnik, bringen Kollegen oder auch Kolleginnen währenddessen ihre Autos und die Werkzeuge wieder in Ordnung.
Wie die Zukunft aussieht, können die Mitarbeitenden aber vielleicht mit Blick auf ein wenige 100 Meter vom Firmenstandort entferntes Gebäude mit eigenwilliger Fassade wahrnehmen. Dort hat der Eigentümer des Unternehmens, Windenergiemanager Klaus Meier, einen Hafenspeicher zum Hotel umgebaut. Fenster in den hohen Silos lehren, dass es sich überall einziehen lässt, wo gerade Platz ist, und auch überall wo Menschen die sich wandelnden Industriewelten immer neu entdecken wollen.
Deutsche Windtechnik
Neueinstellungen 2023: 179 – hinzu kommen die neu eingestellten Auszubildenden.
Ein Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter-Programm erweist sich außerdem derzeit als sehr erfolgreich: 40 Prozent der darüber gewonnenen neuen Kolleginnen und Kollegen kamen über die persönlichen Einladungen durch Mitarbeitende zum Unternehmen.