Prognosen sind eine schwierige Sache. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“ Dieses Zitat, dem Schriftsteller Mark Twain zugeschrieben, beschreibt ein Problem aller, die langfristige Pläne aufstellen müssen. Denn schwierig hin oder her – ohne Prognosen geht es nicht.
Das gilt auch für den Umbau der deutschen Energieversorgung. Seit 2017 werden im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) die sogenannten Langfristszenarien erstellt. Sie berechnen Wege des Energiesystems, mit denen Klimaneutralität bis 2045 erreicht werden kann. Doch nun hat sich Streit an den Langfristszenarien entzündet. Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) schlägt Alarm. Bei einer Analyse habe man zahlreiche Fehler bei der Berechnung der Modelle entdeckt, die sich gravierend auswirkten. „Die Ergebnisse der BEE-Analyse machen deutlich, dass die Berechnungen der Einspeisung bei allen erneuerbaren Technologien die Realität nicht korrekt abbilden“, kritisiert BEE-Präsidentin Simone Peter. Dies führe in der Summe zu Abweichungen zwischen 80 und 90 Terawattstunden und zu stündlichen Abweichungen im Gigawattbereich über fast den gesamten Simulationszeitraum. „Die tatsächlich verfügbare Leistung und der Beitrag aus erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung werden in den Szenarien deutlich unterschätzt.“
Die tatsächlich verfügbare Leistung und der Beitrag aus erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung werden in den Szenarien deutlich unterschätzt.
Problematisch sei dies vor allem, weil die Langfristszenarien als Grundlage weiterer Berechnungen dienten, etwa für die Planung der Systemtransformation oder die Entwicklung der Verteilnetze, und auch Basis politischer Entscheidungen sind. Fehler setzen sich also fort und könnten, so die Befürchtung, teure Fehlentwicklungen in Gang setzen. Der BEE fordert daher eine Neuberechnung.
Onshorewind: alte Anlagenkonfiguration
Doch was kritisiert der BEE im Einzelnen? Eine Auswahl: Im Bereich Windenergie an Land gingen die Szenarien von einer bestmöglichen Anlagenkonfiguration im Jahr 2040 aus, die deutlich schlechter als der heutige Stand sei, moniert der Verband. So rechneten die Szenarien auch in der aktuellen Version von 2022 mit einer Nabenhöhe zwischen 80 und 150 Metern. 2022 aber lag die durchschnittliche Nabenhöhe von neu errichteten Windenergieanlagen an Land laut der Deutschen Windguard schon bei 138 Metern, die höchsten kamen auf deutlich über 160 Meter. Laut BEE ist allein in den vergangenen zwei Jahren bei etwa 75 Prozent aller Neuanlagen eine bessere Anlagenkonfiguration in Bezug auf Nabenhöhe und Schwachwindverhalten zu verzeichnen. Gleichzeitig würden Abschattungseffekte und die technische Degradation viel zu hoch angenommen, sodass der Beitrag Wind onshore zu niedrig dargestellt werde.
Anders zeigt sich die Einschätzung bei der Windenergie auf See. In den letzten acht Jahren habe es in keiner Stunde eine reale Auslastung von mehr als 95 Prozent offshore gegeben, so Peter. „In den Langfristszenarien treten diese Zeitfenster aber über 600 bis 800 Stunden auf.“ Zusätzlich komme die Einspeisung in mehreren Hundert Stunden auf die Nennleistung der Offshore-Installation, was allein wegen Abschattungsverlusten und technischer Verfügbarkeit der Anlagen nie erreicht werden könne.
PV: Pauschale Kappung bei 50 Prozent
Kritik gibt es auch an den Berechnungen für Photovoltaik (PV): Wenn auf nationaler Ebene eine Auslastung von rund 50 Prozent der Nennleistung erreicht werde, gingen die Langfristzenarien von einer praktisch nahezu unmöglichen und rechtlich unzulässigen pauschalen Abregelung der darüber hinausgehenden Einspeisung aus, kritisiert der BEE. So entstehe eine konstante Einspeisung der Photovoltaik über mehrere Stunden am Tag.
Bei der Wasserkraft wiederum simulierten die Szenarien eine Einspeisung ohne Inputdaten aus Pegel- oder Wasserabflüssen, was zu einer gänzlich falschen Abbildung dieser Technologie führe, heißt es in der Analyse. Zudem würden zu bestimmten Zeiten Leistungssprünge von bis zu 28 Prozent der Nennleistung oder saisonale Verschiebungen der Einspeisungen angenommen, welche mit der Wasserkraft in Deutschland technisch unmöglich seien.
Als besonders problematisch sieht der BEE in seiner Analyse die Rolle, die die Langfristszenarien den Speicherkapazitäten zuwiesen: „Während alle anderen größeren Studien einen deutlichen Speicherzubau im zweistelligen, teilweise sogar im deutlich dreistelligen Gigawattbereich sehen, kommt es im Rahmen der Langfristszenarien des BMWK zu keinem weiteren Zubau“, wundert sich Matthias Stark vom BEE. Er vermutet, dass angenommene „implizite Flexibilitäten“ in der Simulation der Hauptgrund dafür seien. „Diese künstlichen Flexibilitäten sind in der Realität so nicht möglich, was wiederum den Bedarf am Ausbau der Speicherflexibilitäten reduziert – ein Folgefehler“, so Stark.
28 Prozent Leistungssprünge in der Wasserkraft entbehren nach Ansicht des BEE jeglicher realistischer Grundannahme.
Im Ministerium hat man die Kritik des Verbandes zur Kenntnis genommen, sieht sie aber als Einzelmeinung: „Die Einschätzungen des BEE zu seinen zentralen Kritikpunkten werden weder vom Forschungskonsortium für die BMWK-Langfristszenarien noch vom BMWK selbst geteilt“, sagt ein Sprecher auf Anfrage. Doch warum gehen die Langfristszenarien von offenkundig falschen Annahmen aus, wie bei der Anlagenkonfiguration Wind an Land? „Unbestritten sind die vom BEE in seiner Stellungnahme dargestellten Anlagenkonfigurationen für Wind onshore am Markt verfügbar“, so der Sprecher. Problematisch aber sei die zu hohe Annahme der Volllaststunden: „Die tatsächlich beobachtbaren Volllaststunden liegen deutlich darunter und auch deutlich unter den Volllaststunden, die in den Langfristszenarien erzielt werden – selbst in windstarken Jahren sind im Durchschnitt noch nie über 2.000 Volllaststunden erzielt worden.“ Deshalb seien bestimmte Parameter bewusst – abweichend von tatsächlich möglichen Anlagenkonfigurationen – in der Modellierung angepasst worden.
Ähnliches gelte für die Photovoltaik, so der Sprecher: Ohne die Spitzenkappung würde mit Strommengen gerechnet, die in der Realität nicht verfügbar seien, weil der Netzausbau mit dem Ausbau der Erneuerbaren nicht Schritt halten könne und die Anlagen abgeregelt würden. „Eine Nicht-Berücksichtigung würde eine Unterschätzung des Ausbaubedarfs bei Kraftwerksleistungen und eine Überschätzung der Elektrolysepotenziale bewirken“, argumentiert das Ministerium. Eine zuverlässige Prognose, würde Mark Twain wohl sagen, kann man eben nur rückblickend erstellen.