Für den Leiter des Stuttgarter Lehrstuhls für Windenergie (SWE), Po Wen Cheng, ist der Fall klar: 2022 wird das Jahr der Meereswindenergie. Dies begründet der Professor mit der nun schnellen weltweiten Ausbreitung des Offshore-Windenergieausbaus. Der führt inzwischen zu mehr und weniger fortgeschrittenen Projektierungen in knapp 15 europäischen Ländern und gut einem halben Dutzend Länder außerhalb Europas einschließlich USA. Die Dynamik der Investorennachfrage nach immer leistungsstärkeren Turbinen führe zu weiter wachsenden Anlagendimensionen, ohne dass ein Ende der Entwicklung hin zu immer größeren Rotordurchmessern und höheren Türmen erkennbar sei. Die Forschung des SWE solle daher 2022 zunehmende technische Risiken dieses Größenwachstums der Anlagen in Angriff nehmen, kündigt Po Wen Cheng an.
Dazu gehört, dass die Riesenturbinen in athmosphärische Grenzschichten auszugreifen beginnen, über deren Einwirkungen auf die Turbinen noch wenige Erkenntnisse vorliegen. Weil Messmasten zur genauen Aufzeichnung der Windströmungen nicht höher als 150 Meter sind, arbeiten daher der SWE, die Universität Oldenburg und das Fraunhofer Iwes im Forschungsprojekt Emu Wind daran, Windfelder in großen Höhen und ihren Einfluss auf die großen Rotoren zu analysieren. Auch die Erforschung neuer Technologien der Schwimmfundamente von Windturbinen zur Verankerung in großen Meerestiefen sei eines der wichtigen Forschungsthemen am SWE 2022, erklärt der SWE-Lehrstuhlinhaber.
„Die neuen Ausbauziele sollten früh in diesem Jahr einen regulatorischen Rahmen erhalten, mit dem die Bundesnetzagentur die Ausschreibungshöhe für 2022 und die Folgejahre nach oben korrigieren kann.“
WAB
Das Fraunhofer-Forschungsinstitut Iwes widmet sich der Fortentwicklung der Offshore-Windkraft in diesem Jahr mit der Teilnahme eines Expertenteams an großen Messkampagnen zum Testen neuer seismischer Verfahren für die Meeresbodenuntersuchung vor der Verankerung von Offshore-Windturbinen, kündigt Iwes-Institutsleiter Andreas Reuter an. Auch am Leitprojekt H2Mare beteiligt sich das Institut. Das Projekt erforscht die Erzeugung des emissionsfrei nutzbaren Energieträgers Wasserstoff im Offshore-Windpark mit dem dort erzeugten umweltfreundlichen Strom.
Der Windstandort Deutschland steht nach einem Jahr fast ohne und einem weiteren komplett ohne Offshore-Windinstallationen vor einem Aufbruch in ein Meereswindenergie-Jahrzehnt. Die neue Bundesregierung will bis 2030 eine installierte Erzeugungskapazität von 30 Gigawatt (GW) ausgebaut sehen, im Vergleich zu derzeit 7,8 GW. Jährlich müssten somit ab sofort im Schnitt neue Installationen von 2,4 GW Offshore-Windkraft erfolgen – oder aufgrund der langen Projektplanungszeiten realistischerweise ab 2026 eher bis zu 4 GW.
Die Organisation der Offshore-Windkraftindustrie, WAB, fordert daher für 2022 die schnelle Vorlage eines regulatorischen Rahmens durch die neue Bundesregierung. Zudem müsse die Bundesnetzagentur die Ausschreibungshöhe noch für 2022 und die Folgejahre nach oben korrigieren, betont WAB-Geschäftsführerin Heike Winkler. Auch ein regulatorischer Rahmen für eine ambitionierte Wasserstoffproduktion durch Windstrom von der See und vom Land stehe 2022 dringend an. Die Verbindung von Offshore-Windparks mit der Wasserstoffproduktion könnte den Ausbau von Windparks auch in extremen Entfernungen mehrerer 100 Kilometer vor der Küste wirtschaftlich werden lassen. Während die Stromübertragung in solchen Entfernungen unwirtschaftlich wäre, könnte Wasserstoff als emissionsarmer Energieträger vergleichsweise preiswert in Pipelines an Land strömen.
Arbeit an neuen Windturbinentechnologien
Windturbinenhersteller Siemens Gamesa arbeitet nun an der Entwicklung einer Offshore-Turbine mit integriertem Elektrolyseur zur Herstellung von Wasserstoff. Decentralised Offshore Hydrogen Production oder DOHP nennt das Unternehmen das Entwicklungsprojekt. Das Unternehmen wird 2022 alleine für die Offshore-Windkraftmärkte in Taiwan, Großbritannien und Frankreich entweder neu eröffnete Windturbinenfertigungen hochfahren, sie vergrößern oder in Betrieb nehmen. In Cuxhaven wechselt Siemens Gamesa von der Serienproduktion der Acht-MW-Offshoreturbine zur Serienproduktion der Elf-MW-Plattform.
Allerdings liefert der Windturbinenbauer in diesem Jahr noch die ersten der 38 Turbinen des Acht-MW-Typs 8.0-167 für das 342-MW-Projekt Kaskasi in der Nordsee. Es gehört Energiekonzern RWE und ist das erste neue Windparkprojekt in Deutschland. RWE nutzt den Windpark zum Testen von vier neuen Technologien: Dazu gehören recycelbare Rotorblätter, der Grundmaterialien der Komponente aus Glasfaserkunststoff nach dem Anlagenrückbau nun trennbar sein sollen. Getriebezuliefer-Unternehmen Winergy arbeitet 2022 derweil darauf hin, dass 2024 das Hauptwachstum der Offshore-Windkraftgeschäfte erreicht sein wird. Dies betont Martin Sasse. Er ist Vice President für den Verkauf der Winergy-Geschäftseinheit Windenergiegetriebe. Auf das erwartete Auftragshoch bereite sich Winergy nun in der Entwicklung und in den Produktions-
standorten vor.