Die gute Nachricht: Der Ausbau der Kohlekraft geht eindeutig und merklich zurück. Wie eine von den Umweltschutzorganisationen Greenpeace und Sierra Club sowie dem Forschernetzwerk Coalswarm veröffentlichte Studie belegt, nahm die installierte Erzeugungskapazität 2017 weltweit noch um netto 21.360 Megawatt (MW) oder 21,4 Gigawatt (GW) auf 1.995 GW zu. Das entspricht einer Zunahme um etwa zehn moderne große Kohlekraftwerke mit je gut zwei GW, wenn der ungefähre Mittelwert der größten Anlagen in Deutschland mit mindestens einem Gigawatt Nennleistung als Maßstab gelten darf. Ein Jahr zuvor, 2016, hatte die Menschheit nach Abzug der stillgelegten Kapazitäten unterm Strich noch doppelt so viel hinzugebaut: 50 GW, was 25 großen deutschen Kohlekraftwerken entspricht.
Auch der Brutto-Wert der binnen eines Jahres neu in Betrieb genommenen Kohlekraft-Kapazitäten ging nun schon im zweiten Jahr in Folge deutlich zurück. So schlossen die Kohlekraftunternehmen 2017 noch gut 60 GW neu ans Netz an, nach einer Neuinbetriebnahme von mehr als 80 GW im Vor- und mehr als 100 GW im Vorvorjahr. Dies wäre der tiefste Wert seit Sammlung der Daten im Global Coal Plant Tracker durch Coalswarm – und noch rund 15 GW weniger als im Jahr 2014, dem bisherigen Jahr mit der niedrigsten Ausbautätigkeit.
Der Trend ist eindeutig, auch wenn das Ausgangsjahr der für den Klimaschutz erfreulichen Entwicklung der vergangenen beiden Jahre, 2015, ein Ausreißerjahr mit Rekordzubau war: Selbst noch vor zehn Jahren, 2007, hatten die Neuinbetriebnahmen mit rund 95 GW noch etwas weniger ausgemacht. Allerdings reduziert vor allem das aktuelle Klimasünderland Nummer eins, China, die Zahl der Neuinbetriebnahmen in hohem Tempo: So reduzierte die boomende Wirtschaftsmacht in einer von einigen untergeordneten Auf- und Abwärtsbewegungen gekennzeichneten Kurve ihre Neuinbetriebnahmen von 79 GW im Jahr 2006 auf 34 GW im vergangenen Jahr.
Auch bei den Stilllegungen hält der Trend seit 2006 an. Zwar war hierbei 2017 nur das dritterfolgreichste Jahr aus Sicht der Klimaschützer mit einer vom Netz genommenen Leistung von weltweit rund 25 GW. Denn 2015 und 2016 hatten die Betreiber noch 40 und gut 30 GW stillgelegt. Allerdings ist die Entwicklung bei den jährlichen Stilllegungen ohnehin von starken Schwankungen gekennzeichnet, da hier nicht nur wie beim Zubau wirtschaftliche und Klimaschutzaspekte eine Rolle spielen, sondern zusätzlich wohl noch der sehr unterschiedliche technische Zustand der Altanlagen.
Und Greenpeace selbst hebt noch weitere Trends der vergangenen zwei Bilanzjahre 2016 und 2017 hervor, die aufhorchen lassen: So projektierten Kohlekraftinvestoren im Januar 2018 noch neue Kohlekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 446,6 GW – mitgerechnet sind alle Vorhaben, die entweder nur angekündigt, bereits vorgenehmigt oder durch Behörden schon mit endgültigen Baugenehmigungen versehen sind. 2016 hatten die Investoren aber noch 569,6 GW in der Pipeline und 2015 sogar noch knapp 1,1 Terawatt. Der Rückgang in den Projektpipelines von Januar 2017 bis Januar 2018 betrug somit rechnerisch rund 22 Prozent. Mit Januar 2016 verglichen hatten die Investoren zu Jahresbeginn 2018 sogar 59 Prozent weniger neue Kohlekraftkapazität in der Projektpipeline. Auch bei den Baustarts für neue Kraftwerke nahm das Volumen 2017 gemessen an der geplanten Kapazität um 29 Prozent ab. Im Vergleich zu 2016 war die neu aufgenommene Bautätigkeit bezogen auf die Erzeugungskapazität sogar um 73 Prozent geringer.
Außerdem wird laut den Studienautoren auch der Kreis der Länder mit Kohlekraftausbau rasch immer kleiner. So waren es nur sieben Länder weltweit, in denen an mehr als nur einem Standort eine neue Baustelle eröffnet wurde. Außerdem wächst die Bewegung der Länder, die aus der Kohlekraft sich zurückziehen wollen: 34 Länder oder subnationale staatliche Stellen zählen Greenpeace, Coalswarm und Sierra Club hier zusammen.
Fürs Klimaschutz-Mindestziel noch nicht ausreichend
Allerdings reichen all diese Trends nicht aus, um das weltweite Klimaschutz-Mindestziel zu erreichen: die Erderwärmung durch Emissionen von Kohlendioxid (CO2) auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. Legten die Kohlekraftwerksunternehmen alle Baustellen sofort still und gäben auch weitere Planungen auf, würde die bestehende globale Kohlekraftwerksflotte mit Emissionen von 177 Gigatonnen CO2 sogar noch das Erreichen des Zwei-Grad-Zieles erlauben: Das Budget der Kohlekraftwerke für das Zwei-Grad-Ziel liegt bei 207 Gigatonnen CO2. Doch alleine die in Bau befindlichen Kraftwerkskapazitäten würden nach ihrer Inbetriebnahme und ohne Stilllegungen alter Kapazitäten die Emissionen auf 211 Gigatonnen CO2 treiben und damit das Zwei-Grad-Ziel obsolet werden lassen. Werden auch noch die teils schon genehmigten oder teilgenehmigten Projektierungen tatsächlich Wirklichkeit – selbst wenn die Investoren danach keine weiteren Projektierungen mehr aufnähmen – würden die Emissionen auf schon 233 Gigatonnen steigen.
Die Studie fordert daher eine Beschleunigung beim Abschalten älterer und schmutzigerer Kohlekraftwerke. Um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, müssten die 40 und mehr Jahre alten Kraftwerke schneller vom Netz gehen als bisher und noch viel Planungen für neue Kraftwerke gestoppt sowie Baustellen stillgelegt werden. Und um das bei der Weltklimakonferenz in Paris anvisierte strengere Ziel einer Klimaerwärmung von höchstens 1,5 Grad zu erreichen, ist der Weg noch weiter. Das für dieses Ziel den Kohlekraftwerken eigentlich zur Verfügung stehende Budget von 117 Gigatonnen CO2 haben die Betreiber schon jetzt um 50 Prozent deutlich überzogen. Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, so erklärt die Studie, müssten alle gegenwärtigen Entwicklungen für neue Kohlekraftwerke sofort gestoppt und auch viele unter-40-jährige Kraftwerke schon abgeschaltet werden.
USA und EU müssen abschlaten, China und Indien ihren Ausbau streichen
Beim Abschalten der Meiler sehen die Klimaschützer vor allem die USA und die Europäische Union (EU) in der Pflicht, wo zusammengerechnet 70 Prozent aller Kohlekraftwerke im Alter von 40 Jahren und mehr stehen. Alleine in den USA befindet sich die Hälfte dieser Altanlagenkapazitäten mit 144 von weltweit 290 GW. In der EU sind 59 GW mindestens 40 Jahre alter Anlagen noch in Betrieb.
Bei Projektierungen und auf den Baustellen müssten hingegen vor allem die Chinesen, aber auch die Inder zurückstecken. So plant und errichtet alleine China 211 GW neuer Kapazitäten. In Indien sind es 131 GW. Im Rest der Welt sind es noch 317 GW. Wobei auch hier überwiegend Asien und meist der Osten des Kontinents betroffen sind: die fünf Länder mit den nach China und Indien größten geplanten und im Bau befindlichen Kapazitäten sind Vietnam, Türkei, Indonesien, Bangladesch und Japan. Sie haben zusammen 168 GW in Entwicklung.
Atomkraft nicht vergessen - siehe jüngster Riesen-Deal zum Verkauf von Druckwasserreaktoren
Dass die globale Energiewende allerdings mit der erfreulichen statistischen Entwicklung bei der Kohlekraft – zum Vorteil des Weltklimas – schon in Sicht geriete, wäre freilich ein Trugschluss. Denn die einseitige Studiensicht auf die CO2-Emissionen der Kohlekraft darf nicht den Ausbau der Kernenergie vergessen lassen. Auch der ist zwar längst verlangsamt im Vergleich zu den Atomkraft-Euphorie-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Doch er findet statt, wie gerade ebenfalls eine Studie beweist. Herausgeber ist das in Berlin ansässige Netzwerk von Parlamentieren und Wissenschaftlern, Energy Watch Group. Es warnt hier vor allem vor der Tätigkeit eines europäischen Akteurs, nämlich Frankreichs. So wertet Energy Watch Group insbesondere den Verkauf in der vergangenen Woche von sechs Druckwasserreaktoren Frankreichs an Indien als ein alarmierendes Zeichen. Das von Präsident Emmanuel Macron offenbar beim persönlichen Zusammentreffen auf einem Staatsbesuch in Indien mit dem Ministerpräsidenten Narendra Modi besiegelte Geschäft sieht den Bau von Indiens größtem Atomkraftwerk Jaitapur vor.
Insbesondere die Druckwassertechnologie habe sich aber als eine nicht ausgereifte und von technischen Pannen gekennzeichnete Energieerzeugungsform erwiesen, warnt das Netzwerk.
Dass der Ausbau der Atomkraft im Schatten des Klimaschutzes ohne öffentlichen Protest voranschreitet, darf nicht passieren. Dass die Politik möglicherweise deshalb schweigt, weil sie wie es Energy Watch Group nahe legt, militärisch nutzbare Erkenntnisse und Produkte aus der Atomkraft ableiten will, macht es nicht besser. Eine europäische Union, die den Bau von Druckwasserreaktoren wie in Frankreich, Finnland oder England zulässt, sollte daher genauso im Ziel der Kritik durch die Energiewende-Akteure bleiben, wie die größten Kohlekraftsünder-Länder.
(Tilman Weber)