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Windgeschichte

Windgutachten - Wie alles begann

Die Haare waren damals länger. Definitiv! An einem herbstlichen Septembertag im Jahre 1991 waren Per Nielsen, Gründer und Chef von Energie- og Miljødata (EMD), und ich auf dem Weg zum Veranstaltungszelt der zweiten Husumer Windenergietage. Im Gepäck hatten wir Unterlagen und Beispiele zur ersten Version eines neuen Softwarewerkzeuges – das Windatlas-System in deutschsprachiger Version und anhand zwei blauer 3.5“ Disketten auf einem MS-Dos kompatiblen Rechner zur Installation geeignet.

Nordtank, Tacke, Jacobs, Lagerwey

Rund sechs Monate zuvor hatte ich begonnen, das modulare Softwaresystem und die Methoden dahinter kennenzulernen, zu verstehen, zu testen und mit anderen Berechnungstools zu validieren, erste Beispiele und kleine Projekte aufzubauen sowie Programm und Anleitung ins Deutsche zu übersetzen. Mit der Software ließen sich die konkreten Windverhältnisse anhand einer Beschreibung der topographischen Verhältnisse eines geplanten Windenergiestandortes in Form von Rauigkeiten (Oberflächenbeschaffenheit), Hindernissen (jedes Haus und jeder Busch/Knick in der Umgebung) sowie der Form des Geländes (einfacher Hügel) aufgrund einer dem Raum übergeordneten Windstatistik („geostrophischer Wind“) zu ermitteln. Mitgeliefert wurden Bibliotheken mit Windstatistiken aus dem ersten großen Standardwerk der Windenergie, dem Europäischen Windatlas, sowie eine umfassende Datenbank mit Leistungskennlinien im Bereich von 30kW bis 400kW verschiedener Anlagentypen und klingender Herstellernamen wie u.a. Adler, Bonus, Enercon, HSW, Jacobs, Lagerwey, Micon, Nordex, Nordtank, Tacke, Vestas und WindWorld.

Die Winkra – ein Planer aus Hannover - hatte schon Interesse bekundet und ein Termin mit Vestas und dem neuen, technischen Verkäufer Jörg Beland standen auf der Agenda. Neben den interessanten Gesprächen bei den Herstellern haben wir uns mit Walter Eggersglüß von der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein, Helmuth Häuser und Jochen Keiler (Verein „umschalten“, Monatsinfo „Betreiberdatenbank“) über Stand und Ausbau der Windenergie in Deutschland diskutiert und informiert. Viel Energie und Expertise sind in diesem Zelt seinerzeit aufeinandergetroffen – Ideen und Momentum für mehrere Dekaden der Windenergieentwicklung und des Wachstums.

Anrufe der ersten Kunden

Stefan Chun, Geschäftsführer Cube Engineering - © Foto: Cube Engineering
Stefan Chun, Geschäftsführer Cube Engineering

Zurück in Kassel folgten die Anrufe der ersten Kunden. Nein, sie bräuchten nicht unbedingt die Software, sondern sind an der Expertise und der Beurteilung ihrer Standorte interessiert. Mein Ingenieursstudium mit dem Schwerpunkt der Windenergie in Kassel, die Mitarbeit im Windmessprogramm in Hessen, eigene und fremde Windmessungen mit sog. Windklassierern auf Surfmasten  und 30m hohen entasteten Nadelbäumen sowie speziell meine Diplomarbeit zur messtechnischen Untersuchung der Wind- und Ertragsverhältnisse im Mittelgebirgsraum schafften die Grundlage eines „Wind- und Ertragsgutachtens“. So ging es dann bald nach Empfehlung zu einer Käserei nach Wangen ins Allgäu: Gesucht wurde der geeignetste von drei alternativen Aufstellorten für eine 150kW-Anlage, um der Käserei auch in der Stromgewinnung zu mehr Ökologie zu verhelfen. Die Standortbesichtigung wurde zu einem Wochenendausflug u.a. mit Bad in einem der zahlreichen Weiler, Käsereirundgang und Verköstigung mit eigenen und Nachbarprodukten. Ein Teil des Honorars wurde sehr zur Freude von Familie und Verwandtschaft mit Käse beglichen (selten wieder so einen tollen Käse gegessen).

Easywasp, die einfache Nutzung des Wasp-Programmes in den Versionen 2.0 bis 5.1 (nach wie vor ein Industriestandard) war fortan mein Standard in der Erstellung von Windgutachten mit der EMD-Software: Auf topographischen Karten wurden Höhenlinien nachgemalt, mit einem A2-Digitalisierbrett abgefahren, in der Auflösung optimiert (am Anfang musste der Bearbeiter unter 10.000 Punkten bleiben bzw. mit Bigwasp waren 16.000 Punkte das Limit) und in eine Höhenkarte umgeformt. Rauigkeitsklassifizierungen erfolgten mit einer 12-sektoriellen Plastikrose auf nicht-vollgemalten Karten unterschiedlicher Maßstäbe und Abständen von bis zu 20 Kilometer bei signifikanten Wechseln zum Beispiel zur Großstadt. Auch die Hindernissituation erfuhr in zeichnerischer Form auf hochkopierten Karten ihren Eingang in das Programm. Was lobe ich den Fortschritt mit einer Gis-basierten Steuerung meines Projektes in der heutigen Software Windpro 3.0 – selbst die langersehnte Undo-Funktion ist dort implementiert. Damals war ein Fehler noch fatal – oft der Grund, die Arbeit nahezu komplett von neuem zu beginnen.

Weinanbau und Rinderzucht

Eine der frühen Auslandsreisen mit einem „windigen“ Auftrag führte mich nach Spanien und mit den beiden Binotsch-Brüdern Joachim und Gerhard sowie Klaus Bergmann zusammen. Die drei B’s von der BBB Umwelttechnik betreuten seinerzeit ein größeres Projektportfolio in den Provinzen Aragon, Navarra und La Rioja und benötigten meine unabhängige Einschätzung u.a. für den ersten aus Deutschland finanzierten Windpark Grisel mit 22x NEG-Micon 48/750kW rund 80km westlich von Zaragoza. Die Provinzen hatten nicht nur viel Windpotential, eine herausfordernd-herbe Landschaft für den Weinanbau und Rinderzucht mit imposanten Gebirgsläufen und –massiven zu bieten, sondern eröffneten einen atemberaubenden nächtlichen Sternenhimmel. Standortbesuche hatten und haben immer etwas mit kulinarischer und kultureller Weiterentwicklung zu tun, geben Aufschluss über historische Entwicklungen und fördern den Austausch mit Kunden und Menschen vor-Ort – Enthusiasmus und Engagement sind Riesengeschenke für alle Beteiligten, um in der eigentlichen Sache nämlich der „Windenergie“ und dem Ausbau der „Erneuerbaren Energie“ für eine nachhaltige und sichere Energieversorgung zusammen zu arbeiten.

Aus Ideen und Bekanntschaften entwickeln sich Projekte und Freundschaften. Nach 25 Jahren ist sehr viel passiert; es sind mehrere 1.000 Anlagen erfolgreich errichtet und in Betrieb gegangen. Und manchmal werden aus Freundschaften auch Partnerschaften und Familien – BBB Umwelttechnik und Cube sind jetzt Teil der Ramboll-Familie. Auch wenn dabei die Haare grauer und weniger geworden sind, es macht einfach Spaß im Bereich der Windenergie zu arbeiten. Autor: Stefan Chun