Reinhard Nierer sitzt in seiner Kanzlei im elften Stock in der Friedrichstr. 95 und schaut aus dem Panoramafenster auf Berlin-Mitte. „Gleich da drüben war der erste Windenergietag. In der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften“, erklärt er. Der Rechtsanwalt hat beim ersten Windenergietag in Berlin 1992 den nach seiner Erinnerung einzigen Vortrag dort gehalten. Die erneuerbaren Energien hatten es ihm derweil schon viel früher angetan.
Während seines Studiums hatte Nierer 1984 bei den Grünen in Bonn ein Praktikum gemacht. „Wolfgang Daniels von den Grünen sagte mir damals: Jetzt schreib mal ein Gesetz“, schmunzelt Nierer, der damals noch Student war. Daniels wollte ein Gesetz für Windenergie und Wasserkraft. Er war über die Bürgerinitiative gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf, in der auch Nierer war, in den Bundestag gekommen und hatte viel Kontakt zu dem Umweltaktivisten Amory Lovins. Daniels stellte also eine Liste dessen zusammen, was die Erneuerbaren benötigten, und gab sie Nierer. „Das Gesetz sollte ich schreiben, weil ich der einzige Jurastudent bei den Grünen war. Wir haben das allerdings nicht allzu ernst genommen.“ Das Gesetz wurde zwar beiseitegelegt, aber es hatte schon Ansätze vom Stromeinspeisungsgesetz und wurde von Daniels gemeinsam mit anderen Politikern dahingehend weiter ausgestaltet.
Das Stromeinspeisungsgesetz trat am 1. Januar 1991 als Einspruchsgesetz in Kraft und war der Vorläufer des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, von dem es am 1. April 2000 abgelöst wurde. Es regelte erstmals die Verpflichtung der Elektrizitätsversorgungsunternehmen, elektrische Energie aus regenerativen Quellen abnehmen und vergüten zu müssen. Entworfen wurde es letztlich von Matthias Engelsberger (CSU) und Wolfgang Daniels. Der Grünen-Politiker gründete übrigens im selben Jahr die Regenerativfirma Sachsenkraft, die wie die Windenergietage in diesem Jahr 25-jähriges Jubiläum feiert. Schließlich wurde es von der CDU/CSU-Fraktion in den Bundestag eingebracht, da der damalige Fraktionsgeschäftsführer Jürgen Rüttgers Bedenken hatte, einen gemeinsamen Antrag von Union und Grünen zu stellen.
CSU wichtiger Partner
Die CSU sei damals ein wichtiger Partner für die Verankerung eines Regenerativgesetzes gewesen, erinnert sich Nierer. In Südbayern sei die kleinteilige Wasserkraft nicht wirtschaftlich gewesen. Der CSU-Mann Peter Ramsauer galt als starker Unterstützer der Erneuerbaren. „Bei vielen ging es ums Familienvermögen. Daniels wusste, wenn ich die CDU kriegen will, dann über die CSU“, so Nierer. Der Deal sah die Stärkung der Wasserkraft in Bayern vor und im Gegenzug die Windkraft im Norden. Allerdings habe es bis dato nur ein paar Tüftler in der Windkraft im Norden gegeben. „Solar gab es gar nicht, Bioenergie war ebenfalls kein Thema.“
Im neuen Umweltministerium
„Wolfgang Daniels hatte übrigens den ersten Windpark im Binnenland gebaut, Vestas-Anlagen vom Typ V27, auf dem Hirtstein im Erzgebirge in Sachsen“, erinnert sich Nierer. Amüsiert fügt er an: „Daniels kam dann zu dem Schluss, dass Windenergie nur in Schleswig-Holstein, an der Küste und auf dem Hirtstein möglich ist.“
Nierer hatte kurz nach der Wende gerade in Colorado, USA, an seiner Promotion gearbeitet, als sein Doktorvater bei ihm anrief und fragte, ob er einmal etwas ganz Neues machen wolle: „In Potsdam suchen die jemanden.“ Genauer gesagt: Im Brandenburger Umweltministerium wird ein Jurist gebraucht. 1991 war Matthias Platzeck dort Umweltminister. „Ich habe mich dann da beworben, bin auch genommen worden. Das war ein kleines Ministerium mit zunächst 20 Leuten auf dem Telegrafenberg. Das Schild vom Deutschen Wetterdienst, der dort vorher ansässig war, hing noch an der Tür“, erinnert sich der Rechtsanwalt. „Immer wenn jemand das Gefühl hatte, das sei ein juristisches Thema, kam er zu mir: Schreiben Sie mal ein Naturschutzgesetz, hieß es dann zum Beispiel.“
Einmal habe er Platzeck getroffen und der sagte: „Sie müssen morgen ins Innenministerium.“ Das sei irgendwo bei der Polizei. Um da hineinzukommen, brauche man wohl einen Dienstausweis. „Ich hatte keinen Dienstausweis, niemand hatte einen. Darauf sagte die Sekretärin zu mir: Dann machen wir einen. Sie schnitt ein Stück graues Papier zurecht, schrieb Namen, Geburtsdatum und so weiter drauf, dazu klebten wir ein Passbild von mir und fügten einen unpassenden und daher absichtlich verschmierten Stempel an.“ Dann wurde das Ganze mit Dienstausweis überschrieben und in Folie eingeschweißt. Am nächsten Tag um 9 Uhr fand Nierer sich bei der Polizeiwache ein, wo zwei Beamte in DDR-Uniformen grimmig dreinblickten und den Dienstausweis sehen wollten. Dieser wurde genau inspiziert. „Aber man kannte diesen Typ Dienstausweis nicht und vermutete, dass das auch wieder so ein Ost-West-Ding sei. Jedenfalls ließ man mich aufs Gelände, ganz hinten klebte am Eingang eines Gebäudes ein Zettel mit Tesafilm, auf dem stand ‚Innenministerium‘. Es gab nur einen Sitzungssaal, im Publikumsbereich saß nur eine Person, da setzte ich mich dazu.“
Es ging um die Verteilung von Mitteln für den Aufbau Ost. Es stellte sich heraus, dass der Herr neben Nierer den Denkmalschutz vertrat. „Wir wurden dann gefragt: ‚Was brauchen Sie denn so?‘ Ich hatte keine Ahnung und ließ erstmal den Denkmalschützer sprechen. Der meinte, er würde 20 Millionen Mark benötigen, schließlich sei auch Sanssouci zu erhalten.“ Dann fragte Nierer das Innenministerium, was die denn so bräuchten: 800 Millionen sagten die nach einigem Zögern. Darauf erklärte Nierer, das Umweltministerium brauche 900 Millionen, schließlich sei man auch für Abwässer und so weiter zuständig.
Die anderen Ministerien hatten damals den Weg zum Sitzungssaal nicht gefunden oder sie hatten keinen Dienstausweis dabeigehabt. „Einige Wochen später erfuhr ich, dass wir den größten Haushalt aller Umweltministerien in Deutschland bekommen hatten und dass es die 900 Millionen jährlich gab. Ich wurde dann Beauftragter für Fördermittel.“ Die müsse man ja auch ausgeben, was bei aller Bürokratie gar nicht so leicht sei. „Heute haben wir in Brandenburg eine hervorragende Gewässerqualität. Wir haben damals alles in Angriff genommen: Gewässerqualität, Deponiesanierung, Wasser, Abwasser, Immissionsschutz. Letztlich hatten wir ja auch mit der Braunkohle ein riesiges Problem. Für die waren wir auch zuständig“, fügt der Jurist an.
Gleichzeitig galt es, die Erneuerbaren voranzubringen. „Damals arbeitete ich rund um die Uhr – immer vor dem Hintergrund, dass man ja nicht weiß, wie die nächste Wahl ausgeht“, so der Jurist. Das sei damals eine tolle Zeit gewesen, schwärmt er: „Geld stand zur Verfügung, es gab noch keine endlose Bürokratie, alle Türen standen offen.“
1993 seien dann „zwei Jungs mit dem Fahrrad den Telegrafenberg hochgekeucht“. Das waren Jörg Müller und Jörg Kuntzsch (siehe Seite 32). „Die fragten, was man mit Windenergie tun könne. Wir hatten keine Daten, wo Wind ist“, erinnert Nierer sich. Kuntzsch schlug darauf vor: Machen wir doch einen Windatlas. Nierer, zuständig für die Fördermittel, erteilte dann den Auftrag des Landes für einen solchen Atlas. Ein Jahr später hatte Brandenburg den Windatlas. „Und Jörg Müller zog als Überzeugungstäter von Berlin in die Uckermark, weil dort die besten Windverhältnisse waren.“
Der erste Windenergietag
Seit ihrer Entstehung hat der Rechtsanwalt auch die Windenergietage begleitet. „Beim ersten Windenergietag 1992 hielt ich als Vertreter des Landesumweltministeriums sogar den einzigen Vortrag dort.“ Er habe zu diesem Anlass die Perspektiven der Windenergie in Brandenburg vorgestellt. „Damals konnte ja jeder überall eine Windturbine bauen, man musste nur eine Baugenehmigung bekommen“, erinnert er sich. Errichtet wurden zu der Zeit natürlich noch deutlich kleinere Anlagen im Bereich von 250 Kilowatt wie die LW27 von Lagerwey. Die Interessenten hatten zahlreiche Rechtsfragen, etwa zu Verträgen: Muss ich das Grundstück kaufen oder reicht eine Pacht? Das Stromeinspeisungsgesetz war die Grundlage, die Windkraftplaner damals hatten.
Rückschauend resümiert der Jurist, die Entwicklungen in Brandenburg damals hätten viel mit der Person Matthias Platzeck zu tun gehabt. Und auch der damalige Ministerpräsident des Landes, Manfred Stolpe, habe hinter der Idee gestanden. „Das ist auch die Erklärung dafür, dass Brandenburg heute so stark ist bei der Windkraft.“
1995: Abschied in die Selbstständigkeit
1995 war es für Nierer Zeit, das Umweltministerium in Potsdam zu verlassen. „Vom Typ her bin ich kein Beamter und irgendwann wurde das Ministerium sowas wie ein Verwaltungsapparat – immer langsamer.“ Nierer eröffnete dann in Berlin mit vier Partnern eine Kanzlei. Erneuerbare Energien sind sein Lebensthema geblieben und auch den Windenergietagen ist er treu geblieben – mit „mindestens einem Vortrag pro Jahr. Außer im vergangenen Jahr, da war ich ein wenig erkältet.“
(Nicole Weinhold) Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus unserer Print-Ausgabe 7/2016. Holen Sie sich jetzt das E-Magazine mit weiteren spannenden Geschichten jetzt im Abo.