Europas Leitmesse für Windenergie erneuerte auch im September wieder ihre jährliche Dauerbotschaft: Die Produktlebenszyklen der Windenergieanlagen haben sich weiter verkürzt. Denn nach gerade einmal einem Jahr seit Vorstellung der neuen Großwindenergieanlagen für Standorte an Land mit erstmals mehr als sechs Megawatt (MW) Nennleistung und mindestens 160 Meter Rotordurchmesser zeigten die Anlagenbauer auf der Wind Energy Hamburg schon Anlagen mit 7 bis 7,2 MW und Rotoren von mehr als 170 Meter Durchmesser. Einen so weiten branchenübergreifenden Leistungssprung binnen zwölf Monaten hat es bisher wohl noch nie gegeben.
Und doch ist manches dieses Mal anders. Am Messestand von Nordex weist nur ein großes Plakat auf die Superturbine hin, die das Unternehmen unmittelbar vor der Messe angekündigt hatte. Für die Anlage mit um 12 auf 175 Meter Durchmesser vergrößertem Rotor gibt das Unternehmen zunächst nur an, es werde sie mit Modi im 6-MW-Bereich auslegen und anbieten. Den neuen Turbinentyp N175/6.X will Nordex offenbar lieber als Verfeinerung der vorigen N163 mit bisher maximal 6,8 MW denn als neues Modell verstanden wissen. Die N163/6.X werde das Unternehmen nun aber auch mit 7,0 MW anbieten können.
Till Junge nennt den neuen Anlagentyp „fast identisch“ mit dem gerade erst in Vorserien montierten Modell N163, was „das Grundsätzliche“ betreffe. „Die Rotorblätter sind neu, die Nabe ist verstärkt, doch der aufgelöste, lang gezogene, doppelt gespeiste Asynchrongenerator und die Steuerung sind dieselben wie bei unserer 6-MW-Serie und teilweise wie bei der N149“, sagt der Leiter der Produktstrategie des Unternehmens. Der nun sich anbahnende Schritt über die 7-MW-Schwelle ist auch eine Folge der bei den Nordex-Entwicklern schon von Anfang an bekannten Stärke des elektrischen Systems der 6-MW-Serie: „Es war bekannt, dass die Auslegung der Elektrik der 6.X-Anlagen für bis zu 7 MW reicht“, sagt Junge.
Nordex: schallreduzierte Effizienz
Tatsächlich lässt die Anlage im Vergleich zu den Vorgängermodellen den Trend der Windenergiebranche zur Weiternutzung möglichst vieler Komponenten erkennen. Die leistungsstärkere Neue hat ein Maschinenhaus derselben Länge wie alle Vorgängeranlagen der aktuellen Bauplattform für die Nordex-Turbinen, Delta 4000. Außerdem harmonisierten die Entwickler verschiedene jüngere technische Fortentwicklungen an den Bauteilen so, dass sie sich sowohl bei den Nordex-Anlagen der 4-MW- als auch der 5-MW- und der 6-MW-Klasse einsetzen lassen.
Auch den neuen Turbinengiganten N175/6.X versahen die Entwickler wieder mit der höheren Generatorspannung von 950 Volt, die Nordex mit der N163 eingeführt hatte. Höhere Spannungen erlauben geringere Kabeldicken trotz höherer Leistung, weil sie damit weniger Stromstärke transportieren müssen. Auch die Drehzahl des großen Rotors im Wind ändert sich je nach Auslegung der Windturbinen. Die Rotordrehzahl richtet der Nordex-Vertrieb abhängig vom Projektstandort oder vom wirtschaftlichen Konzept der künftigen Betreiber aus, wobei schnellere Rotordrehungen mehr Schallemissionen verursachen, aber auch bei gleicher Drehzahlübersetzung des Getriebes die Rotation der Magneten im Generator erhöht. Nordex kann mit der Generatordrehzahl, aber auch mit der Einstellung des Drehmoments die Nennleistung dosieren.
Nordex lässt nun die Kunden zwischen verschiedenen Leistungsmodi wählen. Sie richten sich nach der Begrenzung der Geräusche der Anlage. Leistungsreduziert auf 6,22 MW soll die erste Auslegung der neuen N175 erfolgen. Diese N175/6.22 wird mit einem Lärmemissionspegel von 106 Dezibel leiser Strom ernten als die N163. Den generellen Mehrwert der N175 rechnet Nordex den Kunden in deutlich mehr Ertrag vor allem in Schwachwindsituationen um. So soll die N175 bei Schwachwind um bis zu 22 Prozent mehr Strom erzeugen als die N163. 2024 will Nordex den Prototyp errichten, während die Serienproduktion der N163/6.x-Klasse im kommenden Jahr beginnen wird. Die für bis zu 179 Meter Nabenhöhe vorgesehenen Türme will Nordex entweder im eigenen Haus oder in Partnerschaft durch das bayerische Betonbaufachunternehmen Max Bögl bauen lassen.
22 Prozent mehr Ertrag in Schwachwindsituationen sind zum Beispiel bei Nordex das Ergebnis der höheren Auslastung der neuen Anlagen dank ihrer deutlich vergrößerten Rotoren.
Ausgerechnet Enercon bestätigte in Hamburg den Trend zum noch höheren Leistungssprung bei gleichzeitiger Harmonisierung in den Anlagenplattformen. Der ostfriesische Hersteller von Windenergieanlagen hatte in der Vergangenheit immer nachgezogen, nachdem Wettbewerber neue, größere Turbinenmaße vorgestellt hatten. Die neue Enercon-Anlage hat aber ebenfalls 175 Meter Rotordurchmesser. Enercon stellte sie mit 6,0 MW vor. Das ist knapp mehr Nennleistung als die beiden 5,5- und 5,56-MW-Typen der vorangegangenen E-160-Serien.
Enercon expandiert E-Gondel-Design
Enercon-Pressesprecher Felix Rehwald erklärt, wie das Unternehmen die Anlagenserien einer Bauplattform sogar über verschiedene Bauplattformen hinweg nachträglich harmonisieren will. So bleibt es seit der Umstellung der E-160 auf das sogenannte E-Gondel-Design von vor einem Jahr bei ins Maschinenhaus eingebauten Umrichtern und dort platziertem Trafo zum Höherspannen der Generatorleistung auf die 30-Kilovolt-Mittelspannungsebene des Umspannwerkes. Seither reicht deshalb ein einziges Kabel zum Transport des Stroms von der Anlage zum Stromnetz. Und Umrichter und Trafo lassen sich anders als vorher nicht erst auf der Baustelle im Turm, sondern weniger fehleranfällig schon im Werk ins Maschinenhaus montieren. Nächster Schritt soll die Übernahme des E-Gondel-Designs in die 3-MW-Serie EP3 sein. Zuerst erhalten die E-138, danach die E-115 das neue, containerförmige Design. Dieses Design löst nach und nach den als kragenförmige Scheibe hinter dem Rotor herausragenden Generator und das kurze Maschinenhaus dahinter ab.
Wie Rehwald erklärt, setzen die Enercon-Techniker weitere Neuerungen der E-175 nun auch in die EP3-Anlagenplattform ein: neue Umrichter zum Beispiel aus eigener Enercon-Entwicklung mit einheitlichen Umrichtersegmenten oder der neue Generator mit Permanentmagneten anstelle der früheren elektrisch fremderregten Generatoren mit aufwendigen Kupferkabelwicklungen. Wo Windparkstandorte logistisch schwieriger zu erschließen sind, lässt sich der Generator der 3-MW-Plattform EP3 in drei Teile gliedern, um die Begrenzungen der Lastgrößen im Straßentransport zu umgehen. Der Generator der EP5-Plattform ist hingegen teilbar in Läufer und Stator.
Enercon benötigt nach eigenen Angaben noch einen weiteren Entwicklungsschritt nach der neuen E-175, um künftig alle Neuerungen in die jeweils darunter liegenden Anlagengrößen nachträglich einzugliedern und so zu vereinheitlichen. Ziel der nun überall in der Windbranche auftretenden Vereinheitlicher ist es, mit möglichst vielen Gleichteilen die industrielle Massenfertigung der Bauteile und Komponenten zu fördern und damit zu geringeren Einkaufspreisen zu kommen. Ziel ist es aber auch, auf ein Baukastensystem umzustellen, das die Anlagentypen leichter größer skalieren lässt.
Während der Windturbinenbauer indes für die 5- bis 6-MW-Anlagen Rotorblätter des Zulieferunternehmens LM anliefern lässt, soll die E-175 wieder Blätter aus der Eigenentwicklung tragen. Für die Betonhybridtürme hat Enercon eine Partnerschaft mit dem bayerischen Bauunternehmen Max Bögl abgeschlossen. Der Jahresenergieertrag der E-175 soll den der E-160 um 18 Prozent übertreffen.
Die branchenweite Harmonisierung der Maschinenhausarchitekturen und ihrer Komponenten und Bauteile lässt sich offenbar sogar von Wind-energieanlagen fürs Meer auf Windenergieanlagen für Landstandorte übertragen – und umgekehrt.
Auch beim Weltmarktführer der Windturbinenbauer, bei Vestas, lässt der Messestand nicht erkennen, dass erneut noch größere Windturbinen ins Portfolio kommen. Vestas hatte schon viele Wochen vor der Messe erklärt, nach der V162 mit 6,2 MW je eine V172 mit 6,8 und mit 7,2 MW Nennleistung zu entwickeln. Die Offshore-Windenergieanlage V236-15 MW stellte Vestas im Februar vor. Im unternehmenseigenen Interview auf der Firmen-Internetseite begründete der Vestas-Präsident der Geschäftsregion Nord- und Zentraleuropa, Nils de Baar, warum die Vestas-Ingenieure zur Hamburger Messe nicht mit einer noch einmal leicht höheren Leistungsgröße antrat: Infrastruktur, Logistik und Lieferketten könnten nicht so schnell mitwachsen, um sofort wieder eine neue Anlagengröße zu entwickeln.
Die Turbinenbauer leiden unter der kurzen Produktlebenszeit der sehr großen und teuren Maschinen, deren verkaufte Stückzahl sie kaum noch schnell genug in lohnende Höhen schrauben können. Daher scheinen Anlagenhersteller wie Vestas nun das Drehen an der Entwicklungsschraube eher als dauerhaftes Nachjustieren der Technologie verstehen zu wollen, statt noch mehr und schneller immer neue Produkte zu verkünden.
So erklärt der Cheftechnologe für den Bereich Nord- und Zentraleuropa, Jan Hagen, wie Vestas mit den neuen Anlagen immer mehr Bauteile sowohl in den Onshore- als auch den Offshore-Plattformen einsetzt. Dies habe schon bei der Anlage V164 stattgefunden, sagt Hagen. Beide Anlagenvarianten, V172 für Windparks an Land und V236 für Windparks im Meer, hätten sich weiter angenähert als die vorigen On- und Offshore-Modelle. „Der Gedanke herrscht bei uns in der Entwicklung schon länger“, erklärt Jan Hagen. „Mit dem nächsten Entwicklungsschritt werden wir eine einheitliche Grundarchitektur der Off- und Onshore-Anlagen bauen.“
Vestas: Harmonisierung Off- und Onshore
Die technologische Grundlage einer breiten Anlagentyp-Harmonisierung bei Vestas lieferte 2019 der Umstieg auf die Enventus-Plattform mit containerförmigem Maschinenhaus und einer stark modularisierten Bauweise der Gondeln. Auch die Steuerung musste Vestas deshalb nun nicht neu entwickeln. Das Vestas Control System 8.000 lässt sich vermutlich bald on- und offshore gleichermaßen einsetzen. Beide Anlagenfamilien erhalten Kompaktgetriebe. Die Windenergieanlagen an Land rotieren dabei mit einem zweistufigen Planetengetriebe. Die größeren Vestas-Offshore-Modelle benötigen ein dreistufiges Planetengetriebe. Der Prototyp der V236-Offshore-Anlage wird noch Ende 2022 an Land in Betrieb gehen, die neue V172-Generation für Onshore-Windturbinen soll im kommenden Jahr Premiere im Feld feiern.
Für die Türme plant Vestas nun mit Nabenhöhen von sogar bis zu 199 Metern. Auch der dänische Windturbinenbauer lässt sich für die Hybridtürme Max-Bögl-Technologie liefern und für die V172 Rotorblätter von LM.
Siemens Gamesa: recycelbare Rotorblätter
Beim Offshore-Wettbewerber von Vestas, Siemens Gamesa, zeigen die Vermarkter am Messestand lieber auf die ausgestellten Bruchstücke eines recycelbaren Rotorblattes. Als erster Turbinenbauer weltweit bietet Siemens Gamesa nun auf Wunsch in Serie produzierte vollständig recycelbare Rotorblätter für alle Turbinen im Portfolio von Siemens Gamesa in Windparks an Land oder im Meer an. Die Blätter bestehen aus einem Materialmix unter anderem aus Glasfasern, Carbon und einem Harz. Dieses lässt sich nach dem Ende der Blattnutzung durch gleichzeitige Einwirkung von Säure und Hitze aufspalten. Der Klebekunstharz in bisherigen Glasfaserkunststoff-Blattstrukturen ist nach der Erhitzung der Blattstruktur im Vakuumverfahren untrennbar mit den Glasfasern verschmolzen. Recycler konnten das Material daher bislang bestenfalls schreddern und neuartige Holz-Kunststoff-Dielen daraus schmelzen oder das Schreddermaterial als Rohstoff und Energiequelle für die Zementfertigung ausliefern. Die wiedergewonnenen Glasfasern seien nicht in neuen Rotorblättern wiederverwertbar. Aber aus den nun kürzeren Fasern könne beispielsweise Füllung in Autotüren werden, sagt Christian Essiger, der Leiter des Bereichs für Windenergie an Land in Deutschland bei Siemens Gamesa.
199 Meter Nabenhöhe plant Vestas für den neuen Turbinentyp V172, 20 Meter höher als der bisherige
Spitzenwert.
Das Unternehmen informierte am Stand außerdem über die neue Offshore-Windenergieanlage mit 14 bis 15 MW Nennleistung und 236 Meter Rotordurchmesser. Außerdem gab es die Entwicklung der SG 7.0-170 bekannt, eine auf 7 MW leicht höher skalierte Variante der Anlage SG 6.6-170. Doch das Unternehmen fährt derzeit überdurchschnittliche Verluste ein. Gründe dafür sind insbesondere die unerwartet hohen Kosten für die Entwicklung der Onshore-Vorgängeranlagen SG 6.6-155 und SG 6.6-170 sowie die allgemein gestiegenen Rohstoff-, Energie- und Logistikkosten.
Noch 2022 will Siemens Gamesa den Prototyp der SG 14-236 am dänischen Nordseestandort Østerild errichten, wo schon der Prototyp der 14-MW-Variante mit 222-Meter-Rotor steht. Für 2024 ist die Serienproduktion in Cuxhaven geplant.
Modulare 7-MW-Typen
E-175-EP5 mit 6,0 MW, Enercon
N175/6.X, mehrere Betriebsmodi, zuerst 6,22 MW Nennleistung, Nordex
SG-7.0-170, Siemens Gamesa skalierte das eingeführte Modell SG 6.8-170 neu.
V172-7.2, Vestas hatte sie vor der Messe angekündigt.