Die von Lille aus propagierte Energiewende verfolgt einen einmaligen, auch das Wirtschaftssystem reformierenden Masterplan. Sogar den US-amerikanischen Star aller Anhänger einer alternativen ökologischen Wirtschaft, Jeremy Riffkin, hatten die Macher des 35-Jahres-Plans als Mit-Autor aufgeboten. Der Ökonom und Soziologe reiste im April zum x-ten Male als sowas wie der eigentliche Ideengeber und offizielle Botschafter des Entwicklungsprojekts Rev3 in die Region. Rev3 – „La 3eme revolution industrielle en Hauts-de-France“ oder die dritte industrielle Revolution in Hauts-de-France – beruft sich explizit auf dessen gleichnamigen Bestseller „Die dritte industrielle Revolution“.
Frei nach Rifkins Theorie muss eine echte industrielle Revolution mit der technologischen Kompletterneuerung von Energieeinsatz, Kommunikation und Verkehr einhergehen. So hatten die erste und zweite dieser Revolutionen gemäß unumstrittener allgemeiner Geschichtsschreibung Holz erst durch Kohle kombiniert mit Dampfmaschinen und dann durch Öl und elektrische Anlagen ersetzt, in der Kommunikation zudem vom Briefeschreiben zum Druck und dann zu Radio und Fernsehen gewechselt und außerdem das Pferd durch wiederum Dampfmaschinen und später durch elektrische oder mit Verbrennungsmotoren betriebene Fahrzeuge ersetzt. Die dritte Revolution hingegen setzt auf erneuerbare Energien, Internet und einen automatisierten digital gesteuerten und modular vom einen zum nächsten Verkehrsmittel wechselnden Verkehr. Das entscheidende aber: Die Investitionen in die neuen technischen Mittel wie Windparks oder neue Computer sind zwar hoch – doch ihre Nutzung beispielsweise des Windes oder der Datenbanken ist weitgehend kostenlos.
Ob all diese Theorie in der unmittelbar nördlich am Großraum Paris anschließenden Region eine Rolle spielen wird, muss sich zeigen. Doch angelehnt an die 2015 festgezurrten nationalen Energiewendeziele Frankreichs will Hauts-de-France bis 2050 bei der Erzeugung von erneuerbaren Energien eine Größenordnung erreichen, die 40 Prozent der heute verbrauchten Energiemenge entspricht. Zugleich soll sich aber dank einer Umstellung auf immer effizientere energieverbrauchende Geräte der Konsum an Kilowattstunden (kWh) um 60 Prozent reduzieren. Damit wäre die Energieversorgung rechnerisch zu 100 Prozent regenerativ.
Nachdem die Nordfranzosen in der Regionsmetropole Lille zusammen mit Rifkin zuletzt ein Jahr lang am finalen Text des Masterplans geschrieben hatten, geht es jetzt los. Das sagt der Berater für nachhaltige Entwicklung bei der regionalen Wirtschaftsförderungsgesellschaft CCI International, Cédric van Riel. So hat die Kampagnen-Koordinierung für Rev3 bereits 350 Projekte unter das Dach des Programms zusammengefasst, einen Bürgerfonds mit 11,5 Millionen Euro initiiert und einen neuen Investmentfonds für zunächst 50 Millionen Euro aufgelegt. Insgesamt will die Region damit eine jährliche Investition in Projekte und technologische Erneuerung von Firmen, Haushalten und öffentlichen Einrichtungen von 500 Millionen Euro anregen.
Dass die Visionen weitreichend sind, daran lassen die Macher keinen Zweifel: Es gehe um eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft, eine Ökonomie der Funktionalität und einen neuen Energiemix, sagt van Riel. Als erste geförderte Projekte nennt er eine Arbeitersiedlung mit 300 Häusern an einer ehemaligen Steinkohlebergbaustätte, die zu einer Positiv-Energie-Zone werden soll: Die Siedlung in Mouveaux wird mehr Energie erzeugen, mit Photovoltaik auf den Dächern beispielsweise, als sie verbraucht. Ein Logistikzentrum soll außerdem mit neuartigen modularen Containern dazu verhelfen, den Waren-Lieferverkehr einer Stadt zu revolutionieren – indem ein spezielles System des Car-Sharings für Waren eingeführt wird.
Dass sich die Region als Schaufenster der Energiewende eignet, steht außer Frage. Die ehemalige Steinkohle- und Stahlbauindustrieregion lag bis vor 20 Jahren wirtschaftlich darnieder. Doch inzwischen hat sich die Region erholt, viele Firmen angelockt, durch Investitionen in die Infrastruktur wie den Bau eines Bahnhofs in Lille für den Schnellzug TGV die Basis dafür geschaffen. Außerdem ist sie mit Forschungseinrichtungen und wichtigen Einrichtungen großer Konzerne in der Energiebranche des Landes eine wichtige Region. Das größte Kernkraftwerk mit sechs 900-Megawattblöcken steht in Dunkerque an der Nordsee. Am selben Ort investiert Energiekonzern EDF mit Partnern in ein gigantisches Lager für Flüssiggas rund eine Milliarde Euro. Windparks befinden sich im Süden des Bezirks. In der noch laufenden dritten Ausschreibungsrunde für Offshore-Windparks ist ein Gebiet vor der Küste von Hauts-de-France im Rennen. Das Kernkraftwerk wird indes trotz einer geplanten Verlängerung der Laufzeit um 10 Jahre bereits um 2030 abschalten – falls Paris es nicht statt dann 50 Jahre lang sogar vielleicht 60 Jahre betreiben möchte.
(Tilman Weber)