Thomas Hahm
Überraschend kommt für manche Planer im Rahmen eines gerade begonnenen oder laufenden Genehmigungsverfahrens für einen Windpark die Forderung, das Risiko durch Eiswurf oder Eisfall von Windenergieanlagen zu prüfen. Manchmal ruft die Bauaufsichtsbehörde dazu auf oder die Forderung ist Bestandteil in einem immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren auf Grundlage von Paragraf (§) 6 Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG).
Probleme für die Statik
Dies ist verwunderlich, da sich die Branche selbst schon lange mit dieser Thematik beschäftigt. Für die Statik ergeben sich Probleme aus der Vereisung der Rotorblätter und den daraus resultierenden Unwuchten. Wirtschaftlich herausfordernd sind zudem vereisungsbedingte Stillstandszeiten. Im Zentrum der Betrachtungen stand stets auch der Sicherheitsaspekt.
So findet sich bereits im Weco-Bericht aus dem Jahre 2000, der zu Teilen durch die Europäische Kommission im Rahmen des Joule-III-Programms finanziert wurde, die Empfehlung, in Regionen mit einer hohen Vereisungshäufigkeit einen Mindestabstand von 1,5 mal Nabenhöhe plus Rotordurchmesser zu den nächstgelegenen Objekten einzuhalten, um ein Risiko durch Eiswurf weitestgehend auszuschließen. Der vorgeschlagene Mindestabstand von 1,5 mal Nabenhöhe plus Rotordurchmesser fand in Deutschland Eingang in die Muster-Verwaltungsvorschrift „Technische Baubestimmungen“ MVV TB, früher bekannt als Muster-Liste der technischen Baubestimmungen. Der Mindestabstand definiert hier seit vielen Jahren die Grenze zu schutzwürdigen Objekten, unterhalb derer durch einen Sachverständigen standortspezifisch zu prüfen ist, ob das Risiko durch Eiswurf oder Eisfall von der Windenergieanlage sich noch in einem akzeptablen Bereich bewegt.
Kein Fall eines Personenschadens durch Eiswurf bekannt
Obwohl also seit Langem im Baurecht verankert, ist es nicht verwunderlich, dass diese Prüfungen von vielen Behörden anscheinend in der Vergangenheit nur selten eingefordert wurden. Dies hängt damit zusammen, dass trotz mittlerweile etwa 30.000 Windenergieanlagen in Deutschland bislang kein einziger Fall eines Personenschadens durch Eiswurf von einer Windenergieanlage bekannt geworden ist. Eine Thematik, die sich bisher also nicht durch negative Schlagzeilen aufgedrängt hat – weder bei Planern noch bei den Behörden und auch nicht in der allgemeinen Wahrnehmung der Branche in der Öffentlichkeit.
Keine einheitlichen Risikogrenzwerte
Ein bisschen erinnert dies – und man möge den Vergleich an dieser Stelle verzeihen – an den globalen Klimawandel, der schon vor über hundert Jahren erstmals thematisiert wurde, seit Jahrzehnten durch Messungen dokumentiert wird und sich dennoch weitestgehend außerhalb der persönlichen Wahrnehmung des Einzelnen bewegt. Eigentlich keine guten Voraussetzungen, um sich mit einem solchen Thema zu beschäftigen und konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Auch bezüglich des Risikos durch Eiswurf und Eisfall von Windenergieanlagen existierten bisher keine konkreten Vereinbarungen, wie die Vereisungshäufigkeiten von Windenergieanlagen zu bestimmen sind, welche Eisstückgrößen und -formen typischerweise auftreten, was bei der Berechnung der Flugbahnen dieser Eisstücke zu beachten ist, wann Treffer zu relevanten Schäden führen oder welche Risikogrenzwerte letztlich einzuhalten sind. Dieser Umstand führte zu einer Unsicherheit hinsichtlich der Akzeptanz von entsprechenden Risikobewertungen und öffnete Diskussionen Tür und Tor. In der Praxis bot dies durchaus eine erfolgversprechende Möglichkeit, um eine Windparkplanung zu be- oder eventuell sogar zu verhindern.
Empfehlungen der IEA zur Risikobewertung
Ende Oktober 2018 wurde mit den Empfehlungen der International Energy Agency (IEA) zur Risikobewertung von Eiswurf- und Eisfallrisiken diese Lücke geschlossen. Zum ersten Mal wurde hier der Stand des Wissens zu Eiswurf und Eisfall von Windenergieanlagen unter Berücksichtigung vorhandener Mess- und Beobachtungsdaten und gängiger Methoden zur Risikobewertung in einem Dokument zusammengetragen.
Der letzte Punkt ist für die praktische Anwendung dabei von besonderer Bedeutung. Zwar haben sich in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland im Rahmen der Risikobewertung von Eiswurf und Eisfall bereits Methoden der Risikobewertung wie etwa das sogenannte MEM-Konzept (Minimale Endogene Mortalität) etabliert. Es fehlte aber bislang eine zitierbare Absicherung durch ein Dokument mit direktem Bezug zur Thematik wie die jetzt veröffentlichten Empfehlungen der IEA. Da es hier letztlich um die Bewertung eines möglichen Todesrisikos geht, handelt es sich um eine sehr sensible Fragestellung, bei der Kontroversen vermieden werden sollten.
Keine klaren Vorgaben für Grenzwerte
Die Empfehlungen der IEA machen hier klare Vorgaben, welche absoluten Grenzwerte für einzelne Schutzobjekte wie zum Beispiel Verkehrswege, Parkplätze oder Industrieanlagen anzusetzen sind. Darüber hinaus ziehen sie darunter eine zusätzliche Ebene ein. Die Idee dahinter: Auch wenn die Grenzwerte unterschritten sind, sollten unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit weitere risikomindernde Maßnahmen ergriffen werden, solange das Risiko nicht vollständig vernachlässigbar ist. Dies soll unter den gegebenen Umständen und bei vertretbarem Aufwand das geringstmögliche Risikoniveau durch Eiswurf und Eisfall gewährleisten. Damit ist viel getan, um das Risiko weiter niedrig und die Akzeptanz für diese Risikobewertungen auf der anderen Seite hochzuhalten.
Risikobewertung in der Nähe von Verkehrswegen
Die meisten Windenergieanlagen, für die das Risiko durch Eiswurf und Eisfall bewertet werden muss, stehen in der Nähe von Verkehrswegen. Bislang ist es noch zu keinem Personenschaden oder Todesfall auf Verkehrswegen durch Eis von Windenergieanlagen gekommen. Demgegenüber stehen bundesweit etwa 3.000 Verkehrstote pro Jahr. Hier akzeptieren wir im Bereich der Mobilität ein sehr hohes Risiko, von dem sich die Windenergie deutlich entfernt halten sollte.
Die Empfehlungen der IEA zur Risikobewertung durch Eiswurf und Eisfall können dies sicherstellen. Denn so viel steht fest: Auch in Zeiten der Klimaerwärmung vereisen Windenergieanlagen und werfen weiterhin Eisstücke ab.
Der Autor Thomas Hahm ist geschäftsführender Gesellschafter der F2E GmbH & Co. KG
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