Der Verkehrssektor ist eines der großen Sorgenkinder beim Klimaschutz. 147 Millionen Tonnen CO2 stießen Autos, Lastwagen, Flugzeuge und Motorräder im vergangenen Jahr laut Umweltbundesamt aus. Und obwohl die Emissionen eigentlich bis 2030 auf knapp 85.000 Tonnen sinken sollten, stiegen sie zuletzt wieder an.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Sei es, dass das Fliegen nach der Coronakrise wieder an Attraktivität gewinnt; sei es, dass der Anschluss an den ÖPNV so schlecht ist, dass nur das eigene Auto mit Verbrennungsmotor als Alternative bleibt. Die Experten sind sich daher einig: Sollen die Klimaziele der Bundesregierung erreicht werden, muss etwas passieren.
Wir wollen eine witterungsunabhängige Alternative zum Auto anbieten.
Eine wichtige Rolle spielen die Kommunen. Viele von ihnen haben sich ehrgeizigere Ziele gesetzt als die Bundesregierung und wollen schon bis 2040 klimaneutral werden. Gleichzeitig sind die Gemeinden der Ort der alltäglichen Mobilität. Die Städte verfolgen indes nicht nur Klimaschutzziele mit ihren Mobilitätskonzepten: Stadtverkehr soll sauberer, sicherer und weniger autooptimiert werden, dabei attraktiv für Handel und Wirtschaft bleiben. Trotz aller Einigkeit kann es im Detail knirschen.
Bocholt: fahrradfreundlichste Stadt
Zum Beispiel Bocholt. Die 77.000-Einwohner-Stadt nahe der niederländischen Grenze hat, was sich viele wünschen: einen Radverkehrsanteil von 40 Prozent. Drei Mal schon wurde Bocholt zur fahrradfreundlichsten Stadt Deutschlands unter 100.000 Einwohnern gewählt. Kein Grund, sich darauf auszuruhen, fanden die Münsterländer und verabschiedeten 2020 ein ambitioniertes integriertes Verkehrskonzept, das dem Radverkehr mehr Raum und vor allem sichere Verbindungen schaffen soll. Neue Velorouten durch die Stadt und Fahrradstraßen sind geplant, die ersten bereits im Bau. Auch Fußgänger sollen sich sicherer und bequemer durch die Stadt bewegen können.
Viel Geld soll in den ÖPNV fließen
Vor allem aber soll der ÖPNV gestärkt werden, sagt Verkehrsplaner Jan Diesfeld. „Wir wollen eine witterungsunabhängige Alternative zum Auto anbieten.“ 57 Millionen Euro will die Stadt bis 2035 insgesamt investieren, so lautet die Kostenschätzung des Mobilitätskonzeptes. Der größte Teil, ein gutes Drittel, fließt in den Ausbau des ÖPNV. Das zentrale Problem: „Wie schaffen wir ein wirtschaftlich tragfähiges Angebot, um innenstadtferne Gebiete anzubinden und insgesamt attraktiver zu werden?“, sagt Diesfeld. Als erster Schritt wurden die Verkehrszeiten der städtischen Busse ausgeweitet. Dazu soll ein On-Demand-System den Stadtbus ergänzen, das tagsüber die äußeren Stadtteile anbindet und nachts sowie sonntags Lücken schließt. „Hier müssen wir aber die Kosten im Blick behalten“, so Diesfeld.
Die Pläne stoßen in der CDU-regierten Stadt auf viel Unterstützung. „Radverkehr ist in Bocholt sehr akzeptiert, da gibt es auch bei Straßenumbauten, etwa für Fahrradstraßen oder mehr Aufenthaltsqualität für Fußgänger, wenig Protest“, sagt der Verkehrsplaner. Ein Verkehrsversuch am Liebfrauenplatz, wo Parkplätze zugunsten von Spielgeräten und Bänken vorübergehend entfallen sollten, sorgte nur zu Beginn für Aufregung. „Am Ende waren alle so begeistert, dass aus der vorübergehenden Reduzierung ein dauerhafter Umbau geworden ist.“
Noch in der Diskussion ist der Plan, die zentrale Königstraße und den Marktplatz so weit wie möglich vom Autoverkehr zu befreien. Ein Parkhaus, nur wenige 100 Meter entfernt, biete ausreichend Stellplätze für Innenstadtbesucher, so die Annahme. Proteste sorgten jedoch dafür, dass die Stadt Verkehrserhebungen vorbereitet, um eine belastbare Datengrundlage für weitere Diskussionen zu haben. Planer Diesfeld ist indes zuversichtlich, die Maßnahme umsetzen zu können. „Wir können an dieser Stelle viel für die Aufenthaltsqualität erreichen.“
Leipzig: Wachsen ohne mehr Autoverkehr
500 Kilometer weiter östlich, in Leipzig, verfolgt die Stadt unter ganz anderen Voraussetzungen dasselbe Ziel: Klimaneutralität bis 2040. Für Leipzig eine Herausforderung, denn die Kommune wächst. Heute zählt die größte Stadt Sachsens rund 629.000 Einwohner, 2040 werden es wohl mindestens 664.000 sein. Das bedeutet auch: mehr Verkehr, der möglichst ohne Auto auskommen soll.
Die 2018 beschlossene Mobilitätsstrategie setzt deshalb klare Ziele: ÖPNV, Radverkehr und Fußgänger sollen 2030 einen 70-Prozent-Anteil am Verkehr haben, jeweils zu etwa gleichen Teilen. Vor allem der ÖPNV soll wachsen: Die Fahrgastzahlen sollen vor allem durch ein verbessertes Angebot auf 220 Millionen pro Jahr steigen – fast doppelt so viele wie in der Vor-Corona-Zeit. Dafür werden das Straßenbahnnetz und Busverbindungen erweitert, gleichzeitig fallen beispielsweise Parkplätze weg, um mehr Raum für Radler und Fußgänger zu bieten.
70 Prozent am Verkehr soll 2030 der Anteil von ÖPNV, Radverkehr und
Fußgängern in Leipzig betragen.
„Wir haben oft begrenzte Straßenraumbreiten“, sagt Kerstin Löbel, Verkehrsplanerin in Leipzig. Die stadtprägenden Gründerzeitstraßen beispielsweise lassen sich nicht verbreitern. „Wir müssen alle Belange abwägen und dann, unter der Prämisse der Verkehrssicherheit, für den Nutzen des Großteils der Verkehrsteilnehmer entscheiden.“ Natürlich gebe es Diskussionen über die Details. „Aber wir schaffen es, die Bürger mitzunehmen.“ Das gelingt vor allem durch viel Kommunikation: Jede größere Baumaßnahme, wenn der Straßenraum sichtbar verändert wird, ist von Informationsveranstaltungen begleitet. Auch bei der Erarbeitung der Mobilitätsstrategie setzte die Verwaltung auf Information und Beteiligung, auch um Wünsche und Bedarfe der Leipziger zu erfragen.
ÖPNV für schlecht erschlossene Gebiete
Oder beim Ausbau des On-Demand-Angebots Flexa: 2019 startete das Angebot als Pilotprojekt, um in bislang schlecht erschlossenen Gebieten ein attraktives ÖPNV-Angebot zu schaffen. Per App oder Telefon wird der Bus gebucht und kann mit dem normalen Ticket genutzt werden. Die Kundenbeteiligung spielt eine wichtige Rolle, etwa bei der Festlegung der Haltepunkte im Stadtgebiet oder bei Umfragen zu Wünschen und Vorschlägen. „Ein regulärer Linienbetrieb würde vor allem in den geringer besiedelten Bereichen mit wenig Fahrgastpotenzial sehr hohe Kosten verursachen“, begründet Löbel die Motivation für das On-Demand-Verkehrsangebot. „Flexa wird sehr gut angenommen und wurde daher mehrfach erweitert.“ Mittlerweile ist es in vier Stadtgebieten verfügbar.
Dass Kommunen eine zentrale Rolle bei der Mobilitätswende spielten, stehe außer Frage. „Wir müssen gute Angebote schaffen, um die Bürger zum Wechsel weg vom Auto hin zum Umweltverbund zu bewegen“, sagt Löbel. Doch das koste viel Geld: „Wir sind auf Förderprogramme von Land, Bund oder EU angewiesen, um diese Ziele zu erreichen.“
Und noch etwas wäre wichtig: eine Gesetzgebung, die weniger das Auto in den Mittelpunkt stellt. Die aktuelle Straßenverkehrsordnung (STVO) folgt noch immer dem Leitbild der autogerechten Stadt. Dass die Verabschiedung des Straßenverkehrsgesetzes und damit der neuen STVO Ende vorigen Jahres im Bundesrat scheiterte, schränkt die Kommunen bei ihrer Gestaltungsfreiheit ein – und bei der Erreichung ihrer ehrgeizigen Ziele.