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Netz lernt Grünstrom regeln

Tilman Weber

Wirtschaftlich und technisch ist die Idee spannend – sowohl für Betreiber und Stromvermarkter der Erneuerbare-Energien-Anlagen als auch für die Netzbetreiber. Das bisherige System zur Stabilisierung von Frequenz und Spannung im deutschen Stromnetz hatte durch Ab- oder Hochregelungen von Kraftwerken bis 2020 immer mehr Kosten verursacht. Diesen sogenannten Redispatch hatten die Übertragungsnetzbetreiber als Engpassmangement verfügt, wo beispielsweise Wind- oder Sonnenstrom die Leitungen zu überladen drohten. Und obwohl Windkraft und Photovoltaik (PV) als Grünstromtechnologie den Vorrang bei der Einspeisung haben, hatten insbesondere Betreiber norddeutscher Windparks zunehmend häufige Abregelungen verzeichnet, was sich Einspeisemanagement nannte. Das neue Redispatch 2.0 soll die Richtung der Regulierung ändern und so die Kostenexplosion stoppen. Ab Juni soll es funktionieren.

Die Zahlen belegen den Reformbedarf: 6 Terawattstunden (TWh), fast alles aus Wind an Land, hatten Grünstromerzeuger 2020 im Einspeisemanagement sprichwörtlich wegwerfen müssen und für die Nichterzeugung 761 Millionen Euro Entschädigung kassiert. Und durch Redispatch und Wahrung einer Netzreserve hatten die Netzbetreiber die Fahrpläne klassischer Kraftwerke um rund 17 TWh korrigiert – für weitere gut 600 Millionen Euro.

Was Redispatch 2.0 wirklich bewirkt, werden die nächsten Jahren zeigen. Theoretisch stellt es die Netzregulierung auf den Kopf, weil nicht mehr nur Netzkonzerne die an Fernleitungen und Verteilnetzen angeschlossenen Kraftwerke und großen Windparks regulieren. Stattdessen soll Auf- und Abregeln von viel mehr Anlagen schon in den Verteilnetzen dafür sorgen, dass Engpässe am besten erst gar nicht im Übertragungsnetz auftreten. Als feineres und flexibleres System senkt es volkswirtschaftliche Kosten, das ist die Idee, weil es dosiert statt überreguliert. Kurzfristig dürfte sich der Nutzen daran zeigen, wie das neue System auf den Marktwert des Ökostroms, auf Zahlungsflüsse oder auch Finanzierbarkeit von Windparkvorhaben wirkt.

Daniel Breuer zählt schon reichlich Konfliktstoff auf. Er ist Partner der Wirtschaftskanzlei Osborne Clarke und berät nun Unternehmen der Windkraft darin, die direkten Stromlieferverträge, Power Purchase Agreements (PPA), anzupassen. Denn PPA-Kunden wollen nachweislich erzeugten Windstrom, kennen aber die reale Mischung des in Redispatch-2.0-Situationen gelieferten Stroms nicht. Auch an Vertragsneugestaltungen zwischen Betreibern und von ihnen beauftragten Direktvermarktern ist Breuer beteiligt. Streit ums Geld ist auch vorprogrammiert, weil die digitale Abwicklung stockt und die schon beim Einspeisemanagement oft zähen Zahlungsflüsse nun vielerorts ausfielen. Außenstände großer Windparks „im schon siebenstelligen Euro-Bereich“ beklagen einige Akteure.

Wie sich Redispatch 2.0 auswirken wird, liegt noch im Nebel. Finanziell schlechter dastehen sollen Betreiber aber nicht.

Foto: Px4u - flickr.com (CC BY-ND 2.0)

Wie sich Redispatch 2.0 auswirken wird, liegt noch im Nebel. Finanziell schlechter dastehen sollen Betreiber aber nicht.

Woran hakt es? Das neue System ist eine Schöpfung des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes von 2019. Es packt in das Energiewirtschaftsgesetz eine komprimierte Beschreibung der umfangreichen neuen Vorgänge im Netz. Um eher vorbeugende Eingriffe zu erleichten, bestimmen die Versorger demnach den Netzzustand für 36 Stunden Planungshorizont im Voraus. Kein Unternehmen, ob Direktvermarkter, Betreiber der Anlagen oder der regional ausgebreiteten Verteilnetze, darf durch die veränderte Einspeisung finanziell schlechter dastehen als wie es vor Redispatch 2.0 gewirtschaftet hätte. Übertragungsnetzbetreiber dürfen nun Grünstromanlagen ab 100 Kilowatt abregeln statt erst ab 10 Megawatt. Redispatch 2.0 soll außer normaler Wirk- auch die Blindleistung regeln lassen. Hierbei handelt es sich um eine in den Leitungen mitschwingende und die Spannung über längere Strecken stützende Elektrizität, die auch verunreinigte Stromfrequenzkurven glätten lässt.

Doch der geplante energetische und finanzielle Ausgleich ist komplex. Energieversorger oder Stromvermarkter müssen schon bisher als Bilanzkreisverantwortliche in ihren Einspeiseregionen so viel Strom liefern, wie ihre Abnehmer bestellt haben. Arbeiten die von ihnen betreuten Wind- oder Solarparks wetterabhängig nicht wie erwartet, müssen sie im kurzfristigen Stromhandel fehlende Elektrizität nach- oder Elektrizitätsüberschuss verkaufen. Oder sie müssen Anlagen drosseln lassen, deren Leistung sie im Regelenergiehandel kaufen. Das bleibt so. Nur: Kommt es künftig zum Redispatch, kaufen die Übertragungsnetzbetreiber die Ausfall-arbeit für die abgeregelten Wind- oder Solarparks. Weil Grünstromanlagen den Einspeisevorrang behalten, dürfen Übertragungsnetzbetreiber sie nur abregeln, wenn deren Redispatch zehn Mal so billig ist wie andere Maßnahmen. Für Eingriffe bezahlen sie den Anlagenbetreibern oder Stromvermarktern, was diesen nun an den Einnahmen aus der prognostizierten Einspeisung fehlt. Später passen sie den finanziellen Ausgleich an die Erträge an, die der echten Wetterentwicklung entsprechen.

Damit der automatisierte Prozess funktioniert, müssen die Beteiligten die Verfügbarkeit aller Grünstromanlagen sowie Einspeiseprognosen exakt und pünktlich eingeben. Und um Mitgestaltung für Anlagenbetreiber und Direktvermarkter zuzulassen und ihre Vermarktung zu erleichtern, können diese zwischen vereinfachten Spitz- und Pauschalabrechnungsverfahren wählen, die Anlagen im Planwert- oder im Prognosemodell regulieren lassen, Eingriffe des Netzbetreibers dulden oder sie auf dessen Aufforderung hin eigenständig ausführen.

Weil das alles zum Stichtag 1. Oktober 2021 gar nicht startklar sein konnte, hatte der Energiebranchenverband BDEW eine Übergangsregelung geschrieben. Die Bundesnetzagentur (BNetzA) segnete sie ab, weshalb das bilanzkreisverantwortliche Grünstrom-Vermarktungsunternehmen noch den energetischen Ausgleich betreibt, die Übertragungsnetzbetreiber dessen Kosten aber ersetzen. Jedoch misslang die finanzielle Abrechnung. Immerhin, so heißt es beim BDEW, ist die Klärung der endgültigen Formeln für finanziellen Ausgleich in vollem Gange. Die BNetzA will sie 2023 abschließen und sammelt Beispiele für zusätzliche finanzielle Verluste.

Osborne-Clarke-Experte Breuer zögert, soll er Wirkungen der „Erzeugungsanpassung“ einschätzen, wie Redispatch-2.0-Eingriffe im Gesetz heißen. Deren Ziel, die konventionelle und erneuerbare Stromerzeugung zweier Parallel- in einem System zu bündeln, sehe Wirkungen am Strommarkt nicht vor. „Die Regulatorik wird sich aber irgendwie auswirken“, sagt er.

So könnte die Zeit negativer Strompreise abnehmen, weil Netzüberladungen durch überschüs-sigen Wind- und Sonnenstrom weniger werden.

Mehr Grünstrom in der Vermarktung?

Das Windpark-Projektierungsunternehmen ITerra Energy in Gießen vermutet eine leicht preissenkende Wirkung durch mehr Strom im Handel. Anders als beim Einspeisemanagement führen Redispatch-2.0-Abregelungen nicht dazu, dass Windparkbetreiber wie Direktvermarkter entsprechend weniger Windstrom an der Strombörse für den Folgetag handeln dürfen. „Es werden nun 100 Prozent der prognostizierten Energie vermarktet und somit mehr als vorher“, sagt Christina Eisenach, die Kommunikationschefin bei ITerra. Die Steuerungsplattform des Energieversorgers EnBW Virtuelles Kraftwerk zur Bündelung der Stromerzeugung kleiner Grünstrom-Anlagen setzt auf eine Dämpfung der Preisausschläge. Andere erhoffen Kostendämpfung: „Redispatch 2.0 wird für eine bessere Netz-auslastung sorgen und damit Netzkosten für alle senken“, heißt es beim führenden Direktvermarkter für deutschen Windstrom, bei Statkraft.

Next Kraftwerke ist dagegen der Stromtrader mit den größten PV- und auch etwas Windstromkapazitäten. Alexander Krautz, Leiter der Geschäftsentwicklung des Kölner Unternehmens, bedenkt ein Alternativszenario: Sollten die Netzeingriffe dank mehr Regelmöglichkeiten stark zunehmen, könnte das den Windstrom-Marktwert erhöhen.

Auch der Berliner Energiemarktberater Nicolai Herrmann taxiert einen treibenden Effekt – für die Kosten der Anlagenbetreiber. Bisher hatten die Windparkabregelungen einen für Direktvermarkter günstigen Preiseffekt. Die Abschaltungen bewahrten diese vor der Klemme, bei einem Grünstromüberangebot nur tiefste Handelspreise zu erzielen und Windparkbetreiber dennoch zum deutlich höheren monatlichen Strommarktmittelwert zu entlohnen. So floss beim Einspeisemanagement das Ausfallgeld der Netzbetreiber an die Betreiber – und die Direktvermarkter besorgten zu Niedrigstpreisen den im Bilanzkreis fehlenden Strom. Das machten sie aber mehr als wett, wenn sie bei gutem Handelspreisniveau hohe Umsätze erzielten und den Strom zu den geringeren Marktwerten bezahlten. Denn auch die Tiefstpreise im Einspeisemanagement zählten zur Berechnung des Marktwertes.

Redispatch 2.0 beseitigt den Effekt. Nun versuchen Direktvermarkter, ihre entgangene Chance durch höhere Preise für ihren Dienst auszugleichen. Sie verhandeln Verträge neu.

Wie schnell sich Redispatch 2.0 nun scharf stellen lässt, war drei Wochen vor Ablauf der Übergangsregel noch unklar: Erst 15 Prozent der Verteilnetzbetreiber erklärten sich als dafür gerüstet. Die BNetzA hat das Fristende daher aufgeweicht. Sie verlangt nun nur, dass ins Redispatch 2.0 gewechselte Netzbetreiber es auch konsequent anwenden.

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