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Windkraft zieht in die Stadt

Tilman Weber

Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher will offenbar bald Ergebnisse der beschleunigten Energiewende vorzeigen. „Aus meiner Sicht sind zehn Jahre bis 2032 eine viel zu langfristige Perspektive. Auch das Zwischenziel 2026 ist zu spät“, sagte er Anfang Januar. Es war eine indirekte Kritik des SPD-Politikers am Windenergie-an-Land-Gesetz, das von den Bundesländern im Durchschnitt eine Ausweisung von zwei Prozent der Landesfläche bis 2032 und der Hälfte davon bis 2027 als Windenergienutzungszonen verlangt. Hamburg soll wie alle Stadtstaaten 0,5 Prozent ausweisen. Tschentscher fährt eine erste Doppelstrategie. In Zusammenarbeit mit der Hamburger Hafenbehörde HPA könnte schon im ersten Quartal 2023 ein Papier zu Entwicklungsflächen entlang der endlosen Kaikanten entstehen. Zugleich beginnen Arbeitsgruppen, Außenflächen, Hafen und Industrie- oder Gewerbegebiete nach Eignungszonen zu durchforsten. Sie sollen auch erarbeiten, wie die komplizierten Mehrfachnutzungen auf den städtischen Flächen möglich werden.

Der Druck auf den Bürgermeister ist groß. Schon jetzt stehen in der Hansestadt 67 Windkraftanlagen, davon 15 auf Industrie- und Gewerbeflächen. Die neue Pflicht zur Flächenausweisung soll in Hamburg zu 100 zusätzlichen Anlagen führen. Und seit 2021 nehmen Anfragen von Industrie- und mittelständischen Gewerbebetrieben nach Flächen für eigene Photovoltaik- und Windkraftanlagen zu, wie Sabine Marggraf weiß. Die Projektmanagerin Erneuerbare Energien der städtischen Hamburger Energiewerke (HEnW) sagt, dass Unternehmen so dem Lieferkettengesetz entsprechen wollen. Sie wollten sich als Komponentenzulieferer für die künftig nachhaltigen Lieferketten qualifizieren. Weitere gewerbliche Interessenten kommen unter dem Eindruck von Ukrainekrieg und einhergehender Energiekrise hinzu. Sie wollen in Versorgungssicherheit und Strompreisstabilität investieren. Und die HEnW sollten ihr eigenes Windstrompotenzial bis 2030 „um ein Vielfaches“ ausbauen, sagt Marggraf.

100 Windenergieanlagen mehr sollen in Hamburg noch zu bislang 67 errichteten Turbinen dazukommen, wenn Hamburg die gesetzlich nun vorgeschriebenen Nutzungsflächen ausgewiesen hat.

Interesse nimmt bundesweit zu

Hamburg ist eines von zwei Pionierbundesländern, in denen heute volumenstarke Windkraftnutzung in den Stadtgrenzen stattfindet. Das andere ist Bremen. 87 Anlagen drehen in der Weser-Hansestadt selbst und in der zugehörigen Hafenstadt Bremerhaven. Nun aber wächst das Interesse an dem städtischen Potenzial auch in anderen Bundesländern.

Gespräche darüber nimmt Wolfram Axthelm bundesweit wahr. Thüringens Glasindustrie zum Beispiel wolle eine eigenständige nachhaltige Eigenversorgung erreichen, sagt der Geschäftsführer des Bundesverbandes Windenergie (BWE). Andere Unternehmen wollten ihre Flächen zur Windkraftnutzung vermarkten. Der BWE hat das Interesse aufgegriffen. Für die Suche nach Raum für den gesetzlich verlangten schnellen Ausbau der Erneuerbaren wertet er Industrie- und Gewerbeareale als wertvolle Ergänzung. Er rät zur bundesweiten Regelung. Auf Industriegebiets-Turbinenerrichtungen nach Einzelfallgenehmigungen müssten Standardverfahren für schnelle Projektentwicklungen folgen.

Schon im sogenannten Osterpaket als Sammlung neuer Gesetze und Reformen zur Energiewende habe die Regierung die Gewerbe- und Industrieflächenregelung im Baugesetzbuch mitschnüren wollen, sagt Axthelm. Doch bei der Verabschiedung des Osterpakets im Sommer fehlte sie. Er hoffe nun auf die Novelle des Baugesetzes oder des Bauordnungsrechtes noch in diesem Jahr. Sie würde „insbesondere dem Interesse ganz vieler Mittelständler dienen, die ihre Produktion klimaneutral ohne Ausstoß des Treibhausgases CO2 und ihren Energiebezug sicher und preisstabil gestalten wollen“.

Geht alles nach den Branchenvertretern, soll die Politik die Höhenbegrenzungen für Windenergieanlagen auf Industrie- und Gewerbeflächen aufheben. Vorgaben in Bebauungsplänen, die eine Turbine verhindern, sollen nicht gelten, wo sie den Zielen des Bebauungsplanes nicht widerspricht. Außerdem ist Axthelm dafür, Direktversorgungen für Betriebe mit Standleitungen zur Windturbine zu erleichtern. Er kann sich lange Leitungen über die zulässige räumliche Nähe von zwölf Kilometern hinaus vorstellen. Bei Direktleitungen entfällt das Netzentgelt, weil die Anlagen nicht ins öffentliche Stromnetz einspeisen, und vielleicht die Stromsteuer.

Selbst in Hamburg bleibt vorher viel zu klären. So will die Hafenbehörde eigene Flächen für Windkraft nutzen. Den Strom will sie nicht über den vom Erneuerbare-Energien-Gesetz definierten Vergütungsstandard, sondern durch Verkauf an die eigenen Hafenmieter absetzen. Auch die Auseinandersetzung in der Landeskoalition mit Bündnis 90/Die Grünen steht an, weil Tschentscher gegen deren Willen auch Naturschutzgebiete nutzen will. Und die Hamburger Energiewerke müssen mit der Industrie an Technologien zur Vermeidung von Bränden und Eisabwurf der Rotorblätter im Winter arbeiten. Weil die Turbinen kaum Sicherheitsabstände zu den Werken einhalten können, muss ein Mechanismus das Feuer im Maschinenhaus sofort von der Sauerstoffzufuhr abschneiden und ersticken.

Wie unklar zudem die Rechtslage ist, ist aktuell auf Fachtagungen zu hören. Zum Beispiel im November bei den Windenergietagen in Linstow: Dort sezierten Rechtsanwälte der Windkraftkanzleien Tettau und Maslaton, wie Baugesetzbuch und Baunutzungsverordnung die Windkraftnutzung nicht nennen und doch eingrenzen. Gewertet als Gewerbebetriebe dürfen Turbinen in Industriegebieten stehen. Wo Regionalpläne die großen Stromerzeuger auf Vorrangzonen begrenzen, gilt dies nur im Außenbereich und nicht in den Stadtgrenzen. Doch ein Gerichtsurteil des Lüneburger Oberverwaltungsgerichts schränkte 2015 ein: Spezifische Ziele von Bebauungsplänen wie Arbeitsplätze können eine Anlage blockieren, weil sie keine örtlichen Mitarbeiter beschäftigt. Als Nebenanlage ist sie indes erlaubt, wo sie der Eigenversorgung von Industrieanlagen dient. Das Windrad darf die Firmenanlage nur nicht optisch dominieren – sie in ihrer baulichen Gesamtmasse nicht übertreffen. Weil in Gewerbegebiete nur mäßig belastende Betriebe dürfen, sind moderne Großwindturbinen dort nur als Nebenanlagen erlaubt. Dann muss die Stadt im Bebauungsplan eine Sonderzone ausweisen – oder die Anlagen als Ausnahme zulassen.

Bislang waren es vor allem große Konzerne, die Hochleistungs-Windenergieanlagen an ihren Produktionsstandorten errichten ließen. Den größten Industriegebietswindpark mit 30 MW nahm Energieversorger Avacon bis September 2020 in Salzgitter in Betrieb. Drei Anlagen stehen im Werk von Salzgitter Flachstahl, vier außerhalb der Werktore auf einer Fläche von Mutterkonzern Salzgitter AG. Der Strom fließt aus technischen Gründen ins öffentliche Netz.

Die 4,2-MW-Vestasturbinen sind Teil einer Kooperation Avacons mit Salzgitter Flachstahl und Industriegasespezialist Linde für das Sektorkopplungsprojekt Windwasserstoff (WindH2). Das Stahlwerk nahm einen Zwei-MW-Elektrolyseur in Betrieb, um den klimaneutralen Energieträger Wasserstoff zu erzeugen. Bis 2050 will Salzgitter Flachstahl die Hochöfen abschnittsweise auf Wasserstoff umstellen und den Ausstoß des Klimaschadstoffes CO2 um 95 Prozent reduzieren. WindH2 nutzt aktuell den Graustrom im werkseigenen Netz, bilanziell gleicht der Windpark das vorerst um ein Vielfaches aus.

30 Megawatt beträgt die Eigenversorgungsleistung des Windparks der Salzgitter Flachstahl. Es ist wohl der größte Windpark zur Eigenversorgung eines deutschen Industrieunternehmens auf dem Firmengelände.

Interesse wächst auch im Mittelstand

Dass die Windkraft auch mittelständische Unternehmen in Gewerbegebieten erreicht, ist ein Ziel in Bremen. In Bremerhaven nimmt Nils Schnorrenberger sie als Windkrafterzeuger ins Visier. Der Geschäftsführer der städtischen Gesellschaft für Investitionsförderung und Stadtentwicklung schätzt, dass fünf bis acht Unternehmen bald in die Windkraft in der Stadt einsteigen könnten. Allerdings zweifelt er, dass Bremerhaven solchen Anfragen weiterhin durch Ausnahmegenehmigungen genügen kann. Er sieht wachsende Konflikte mit dem Lärmschutz voraus. Denn gesetzlich entscheidet nicht nur die Geräuschemission eines Industriebetriebs über seine Zulassung, sondern auch die Summe aller sich überlagernden Geräusche am Standort. So drohe die Windkraft die Lärmkontingente der Industrie- und Gewerbeareale zu erschöpfen. „Die Windenergieanlagen nehmen sehr viel Lärmpotenzial weg und beeinträchtigen so die weitere Flächenvermarktung im Gewerbegebiet an neue Unternehmen.“ Der Wirtschaftsförderer wünscht sich eine Bundesreform, die wie schon bei Bahnlärm die Geräusche der Windkraft nicht in die Gesamtemissionen im Gewerbegebiet einbezieht.

Vorerst will die Stadt die Wünsche des gewerblichen Mittelstands nach Windstrom-Eigenversorgung im Pilotprojekt verwirklichen. Sie plant ein Gewerbegebiet für die Green Economy: Firmen, die für die Energiewende arbeiten – oder energieintensive Betriebe wie Großbäckereien, die klimaneutral produzieren wollen. Die Sonderzone sieht eine Energieerzeugung mit 100 Meter großen und ein MW leistenden kleineren Windturbinen vor.

Ausgerechnet die windkraftfeindliche Landesregierung in Bayern könnte die Windkraftexpansion ins mittelständische Gewerbe forcieren. Im Sommer 2022 schuf sie mit einem Radius von 2.000 Metern um Gewerbegebiete privilegierte Zonen für erneuerbare Energien. Dieses Potenzial will Max Bögl nutzbar machen. Das Betonbauunternehmen aus Sengenthal liefert jährlich einen Großteil der Türme für neue Windturbinen in Deutschland zu. Außerdem hat es ab 2012 aus seiner Prototypentwicklung heraus einen Projektentwicklungszweig aufgebaut. Dessen Spezialität ist der Aufbau räumlich eng begrenzter Energiezellen – mit Erneuerbare-Energien-Anlagen, Unternehmen als Erzeuger und Abnehmer von Energie, mit flexiblen Stromkunden wie Kühlhäuser. Das Konzept sieht vor, dass die Beteiligten zellenweit Verbrauch und Erzeugung ausbalancieren. Das Kühlhaus kann zum Beispiel bei Grünstromüberschuss die Kühlung anwerfen und bei wenig Wind und Sonne in einem Toleranzbereich die Temperatur steigen lassen, was das Industriekundennetz entlastet. Auf Wunsch übernimmt Max Bögl die Überschussstrom-Direktvermarktung.

Interesse an Energiezellen in Bayern

Die Sengenthaler haben das Konzept in einer Kooperation mit der Technischen Hochschule Regensburg verfeinert. Nun treffen sie sich in Sondierungsrunden mit dem für Windenergie zuständigen bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger. An Windparks mit Direktleitungen in Gewerbegebiete zeige sich der sehr interessiert, lassen sie wissen.

Zudem überprüfen sie mit anderen Unternehmen die Eigenversorgungskriterien. Ziel ist es zum Beispiel, die direkte Windstromzuleitung an Unternehmen auch als Eigenversorgung zu werten, wenn der Windpark einem regionalen Betreiber gehört. Das Modell erlaubt bis zu 4,5 Kilometer Abstand zwischen Windpark und Stromabnehmer. Gewerbetreibende müssten dann nicht selbst in Windparks investieren. Nur: Ob dies zu neuen Windparks führen würde, hängt dann wohl davon ab, dass Bayern neue Eignungsflächen im Außenbereich ausweist.

Eigenversorgung, Max Bögl, Sengenthal: bilanziell durch Anteile am Windpark (hinten), Photovoltaik (PV) auf dem Dach und schwimmende PV in der eigenen Sandgrube. Nun will Max Bögl die Großwindturbine Vestas V172 errichten und ans Werksnetz anschließen.

Foto: Max Bögl

Eigenversorgung, Max Bögl, Sengenthal: bilanziell durch Anteile am Windpark (hinten), Photovoltaik (PV) auf dem Dach und schwimmende PV in der eigenen Sandgrube. Nun will Max Bögl die Großwindturbine Vestas V172 errichten und ans Werksnetz anschließen.

„Es dient Mittelständlern, ihre Produktion klimaneutral und den Energiebezug sicher zu gestalten.“

Wolfram Axthelm, Geschäftsführer, Bundesverband Windenergie, zu Windkraft in Gewerbegebieten

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