In 124 Metern über dem Rheinland. Mit so einer Aussicht lässt sich arbeiten. Es sei denn, durch Höhenangst dreht sich der Kopf schneller als das Rotorblatt. Damit die Rotoren sich über die 20-jährige Lebensdauer kontinuierlich drehen, benötigt die Windbranche qualifizierte Mitarbeitende. Der stetige Ausbau der erneuerbaren Energien kann nur durch ausreichend Fachkräfte gesichert werden. Diese fehlen jedoch in vielen der wichtigen Berufe.
Andrea Polzin arbeitet seit zehn Jahren als Servicetechnikerin für Windenergie. Langweilig wurde ihr dabei noch nie. Im Gegenteil: Gerade, dass der Job so abwechslungsreich ist, begeistert sie immer wieder. Das liegt zum einen daran, dass Andrea Polzin gern unterwegs ist: Durch ganz Deutschland fährt sie mit ihrem Kollegen Dominique Cunningham, um Windkraftanlagen für Xervon Wind zu überprüfen. Zum anderen reizen sie die verschiedenartigen Aufgaben. Der Wechsel zwischen Onshore- und Offshore-Windkraft und dass nie vorher ganz klar ist, welche Aufgaben bevorstehen, sorgt stets für Abwechslung.
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Mit Aufstiegschancen hoch hinaus
Am Boden weiß man nicht, was man von oben sehen kann. Für den Weg nach oben gibt es einen Fahrstuhl. Zum Glück, denn bei kleineren Anlagen treffen die Technikerinnen und Techniker gelegentlich nur auf eine lange Leiter. Mit Lift ist der Aufstieg zwar nicht unbedingt schneller, aber deutlich komfortabler. Aufstiegschancen bestehen für Servicetechnikerinnen allerdings nicht nur durch den hoffentlich eingebauten Aufzug. So hat Andrea Polzin sich nach zehnjähriger Tätigkeit als Servicetechnikerin vorgenommen, sich in elektrotechnischen Fähigkeiten weiterzubilden, um noch vielfältigere Aufgaben erledigen zu können. Dazu gehören beispielsweise Getriebetechnik, Reparatur und Endoskopie.
Jetzt geht es aber erst einmal in die Gondel im rheinischen Kratzenburg. Oben angekommen, werden Daten digital eingetragen und abgerufen. Ist die Öffnung für den Kran nicht an richtiger Position, muss die gesamte Gondel ausgerichtet werden. Aus Norden wird Westen und aus Standfestigkeit werden wacklige Beine. Ist die ideale Gondelposition erreicht und der Stand wieder sicher, lässt sich zusätzliche Ausrüstung hochziehen und es kann bis in die vorderste Spitze der Rotornabe geklettert werden. Je nach Aufgabe bieten sich für Polzin und Cunningham so individuelle Herausforderungen.
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Ebenso individuell gestalten lässt sich die Tätigkeit der Servicekräfte. Die Arbeitsrhythmen unterscheiden sich in den Unternehmen. Xervon Wind hat ein Verhältnis von 14 Arbeitstagen und 14 freien Tagen etabliert. Für ausländische Fachkräfte kann das ein Argument sein, weil sich so Besuche in der Heimat bequem einrichten lassen. Die Arbeitszeiten unterscheiden sich zwischen Unternehmen deutlich. Bei vielen sind die Arbeits- und Urlaubszyklen jedoch längerfristig getaktet als bei Xervon Wind. Servicekräfte sind außerdem nicht nur bei Serviceunternehmen angestellt, sondern Windkraftbetreiber stellen zum Teil ihre eigenen Techniker:innen.
Dominique Cunningham und Andrea Polzin müssen nun noch auf das Dach der Anlage, um Gefahrenfeuer und Anemometer zu kontrollieren. Wie bei einem Schiff trifft einen selbst der leichte Wind stark, wenn man den Kopf aus dem Maschinenraum streckt. Zwar stößt der Blick dann nicht auf das weite Meer, dennoch ist die Weite vergleichbar. Die richtige Sicherung ist hier wie überall in der Anlage das Wichtigste. Wie im Sicherheitstraining gelernt, befestigen die beiden die Karabinerhaken ihrer persönlichen Schutzausrüstung an den dafür vorgesehenen Haken.
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Soll es für die Windkraft auch bis ganz nach oben gehen, dann muss besonders in die Ausbildung investiert werden. Neben Mitarbeitern mit passender abgeschlossener Berufsausbildung werden studierte Expert:innen genauso wie Quereinsteiger:innen gesucht. Denn für den geplanten Ausbau der Windkraft braucht es Fachkräfte. Diese fehlen jedoch in erheblichem Maß. Dass technisch ausgebildete und handwerklich geschulte Facharbeiter:innen gebraucht werden, zeigen Arbeitsmarktanalysen.
Freie Stellen können nicht besetzt werden
Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung hat untersucht, welche Fachkräfte für den stetigen Ausbau von Wind- und Solarenergie gebraucht werden. Die Studie wiegt die Zahlen der benötigten Facharbeitenden gegen die verfügbaren Arbeitssuchenden auf. Für die Windbranche gehören dazu Spezialist:innen für die Planung, Logistik und industrielle Fertigung von Anlagen. Genauso sind ein wichtiger Bestandteil Servicetechniker:innen für den Betrieb und die Wartung. In diesen relevanten Berufen der Solar- und Windenergie erkennt die Studie eine immer größer werdende Fachkräftelücke. So gab es 2021 im Jahresdurchschnitt fast 450.000 offene Stellen in den beiden Branchen. Dagegen waren es nur etwa 290.000 Arbeitssuchende, die für die Berufe qualifiziert sind. Nach den Berechnungen beträgt die Fachkräftelücke somit rund 216.000. Dabei wird beachtet, dass verschiedene Berufe verschiedene Qualifikationen benötigen, wodurch sich der Wert nicht rein aus der Differenz von offenen Stellen und Arbeitssuchenden ergibt. Im Vergleich dazu betrug die errechnete Fachkräftelücke 2011 im Jahresdurchschnitt rund 65.000 Arbeitsplätze. Zu dieser Zeit wurden ungefähr 260.000 offene Stellen für 430.000 Arbeitssuchende festgestellt. Aktuell besonders stark betroffen sind handwerkliche und technische Tätigkeiten, die eine Qualifikation als Fachkraft erfordern. Von den 216.000 Stellen der Fachkräftelücke entsprachen 2021 fast 110.000 dieser Qualifikationsstufe. 32.000 weitere Spezialist:innen und 76.000 Expert:innen fehlen zudem in den wichtigen Berufen der Branche. Große Lücken sind jedoch vor allem in den Ausbildungsberufen zu erkennen. Beispielsweise fehlen in der Bauelektrik fast 17.000 Fachkräfte. Acht von zehn offenen Stellen können in diesem für die Windbranche wichtigen Beruf nicht mit qualifizierten Arbeitssuchenden besetzt werden. Ebenso fehlen rund 7.000 Mechatroniker:innen mit einer ähnlich hohen Stellenüberhangsquote.
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Somit liegt die Vermutung nahe, dass ein Problem bei der Ausbildung von Fachkräften vorliegt. Das zeigt auch die Untersuchung des Kofa. Zwar unterzeichneten 2021 mehr als 160.000 Menschen in Deutschland einen Ausbildungsvertrag in den relevanten Berufen der Wind- und Solarbranche. Dennoch steigt die Anzahl von unbesetzten Ausbildungsplätzen stetig: Waren es 2011 noch weniger als 5.000, stieg die Anzahl innerhalb von zehn Jahren auf fast 15.000.
Konkurrenzkampf um Fachkräfte
„Man muss mehr werben, um den Nachwuchs für die technischen Berufe zu begeistern“, sagt Andrea Polzin. Sie hat selbst vor zehn Jahren nur durch einen Flyer im Briefkasten von der Berufsperspektive erfahren. Xervon Wind wirbt unter anderem durch Social-Media-Kampagnen für neue Mitarbeiter:innen. Damit sind sie jedoch nicht allein. „Wir suchen Personal, aber wir sind nicht die einzigen“, sagt Maik Schlapmann, Geschäftsführer von Xervon Wind. Die Karriereportale von Enercon, GE-Wind und weiteren Windkraftunternehmen sind gefüllt mit Stellenanzeigen. Genauso ergeht es reinen Servicefirmen wie Abo Wind Service oder der deutschen Windtechnik. Um im Konkurrenzkampf um Servicekräfte nicht zurückzufallen, locken die Unternehmen daher mit individuellen Konditionen, wie beispielsweise mit angenehmen Arbeitszeiten.
Ich bin immer meinen Weg gegangen, war mir egal, ob das eine Männerbranche ist.
Eine weitere Baustelle liegt für die Branche in der Geschlechterverteilung. 9 der 15 Berufe, in denen die meisten Fachkräfte gesucht werden, weisen einen Frauenanteil von unter zehn Prozent auf. Nur in der Buchhaltung sind Frauen die vorherrschenden Fachkräfte. Andrea Polzin ist selbst noch keiner anderen Servicetechnikerin in der Windbranche begegnet. Gestört hat sie das allerdings nicht: „Ich bin immer meinen Weg gegangen, war mir egal, ob das eine Männerbranche ist.“ Außerdem sieht sie keinen Grund, warum nicht auch eine Frau Service und Wartung machen kann. Training und Ausrüstung könnten theoretisch im selben Maße von Technikerinnen wie von Technikern in Anspruch genommen werden.
Aus- und Weiterbildung in der Windenergie
Auszubildende in verschiedenen Bereichen der Windkraft absolvieren überwiegend eine Standardausbildung ohne Schwerpunktbezug. Dazu gehören beispielsweise die Berufe Mechatroniker, Elektriker oder Schlosser. Die Spezialisierung auf Windenergie wird anhand von Weiterbildungen erlernt.
Studiengänge wie Ingenieurs- oder Naturwissenschaften werden von Hochschulen zum Teil mit windspezifischen Inhalten angeboten. Deutschland- und europaweit bestehen jedoch auch Studiengänge mit einer Spezialisierung auf Windenergie. Beispielsweise verfügt die Fachhochschule Kiel über den Masterstudiengang „Wind Engineering“.
Weiterbildungen fokussieren sich auf zahlreiche Themen in Planung, Montage, Betrieb und Wartung von On- und Offshore-Windergie. Da es sich dabei um einen Technologiebereich handelt, der immer weiterentwickelt wird, gibt es zwar bereits spezifische Qualifizierungsangebote, jedoch keine einheitlichen Aus- und Weiterbildungsprogramme. Weiterbildungsmöglichkeiten bestehen auch in den Bereichen Anlagen- und Komponentenfertigung. Im Bereich Service kann sich zum Beispiel ein Techniker zur Fachkraft für die Wartung und Reparatur von Rotorblättern weiterbilden.
Xervon Wind
Xervon Wind beschäftigt aktuell rund 70 Servicemitarbeiter:innen. Das 2021 gegründete Unternehmen der Remondis-Gruppe versorgt projektbezogen Windkraftanlagen im Onshore- und Offshore-Bereich. Basiswartung sowie Installation und Großkomponentenaustausch gehören unter anderem zu den Leistungen der Xervon Wind. „Neben einem Qualifikations- und Trainingsprogramm wird unsere Versorgungsgarantie sehr wertgeschätzt. Durch die Remondis-Gruppe sind wir mit Rhenus Logistics in der Versorgung von Offshore-Anlagen, im O&M-Hafenbetrieb, Personentransport, Offshore-Logistikpersonal als auch in der Fracht- und Zollabfertigung gut aufgestellt“, sagt Geschäftsführer Maik Schlapmann.