Meer wird zum Energieerzeuger: 70 Gigawatt (GW) Offshore-Windenergie will die Bundesregierung bis 2045 in den Gewässern vor der deutschen Küste installieren, vor allem in der Nordsee. „So dicht wie dort werden nirgendwo sonst auf der Welt Offshore-Windenergieanlagen geplant“, sagt Kerstin Avila. Die Physikerin von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ist eine der Sprecherinnen des „Reallabors 70 GW Offshore Wind“. Ziel ist, den Ausbau der Offshore-Windenergie ganzheitlich, also nicht nur aus technischer, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht zu analysieren. So wollen die Wissenschaftler die Grundlagen dafür schaffen, die hochgesteckten Ziele zu erreichen.
Die Skalierung von derzeit knapp 9 GW auf 70 GW werde dramatisch, so Avila. „Die Dimension dieses Ausbaus ist aber in der Gesellschaft noch überhaupt nicht angekommen. Es geht um die Industrialisierung und Funktionalisierung einer Region, die dafür nicht vorgesehen war.“
So dicht wie dort werden nirgendwo sonst Offshore-Anlagen geplant.
Deshalb stehen zahlreiche Fragen auf der Agenda des Reallabors, an dem insgesamt sechs Forschungseinrichtungen beteiligt sind. Es geht um Konfliktpotenziale und Chancen des Ausbaus, Life-Cycle-Management von Windturbinen, Systemintegration und Aerodynamik der Anlagen, mögliche Auswirkungen des Ausbaus auf die marine Umwelt und nicht zuletzt um die marine Raumplanung. „Die Flächen auf See reichen nicht, um 70 GW zu installieren“, sagt Torsten Schumann von der Leibniz Universität Hannover, neben Avila ebenfalls Sprecher des Reallabors. Deshalb beschäftigen sich die Forschenden mit den Co-Nutzungs-Potenzialen von Offshore-Windparks. Sie könnten energetisch genutzt werden, etwa indem zusätzlich Wellen- und Tidenkraftwerke oder Solarmodule installiert werden. Aber auch eine nicht energetische Co-Nutzung ist denkbar: Fischfarmen könnten zwischen Windparks entstehen oder bestimmte Routen für die Schifffahrt freigegeben werden. Stakeholder-Befragungen sollen helfen, die besten Co-Nutzungs-Szenarien zu entwickeln, um Nutzungskonflikte nach Möglichkeit gar nicht erst entstehen zu lassen.
Forschungsprogramm für Niedersachsen
Das Reallabor ist nur ein Teil einer gewaltigen Forschungsinitiative, die Anfang Oktober offiziell gestartet ist. Das Forschungsprogramm „Transformation des Energiesystems Niedersachsen“ („Ten.EFZN“) verbindet 180 Forschende an 15 niedersächsischen Universitäten, Fachhochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Ihre Aufgabe wird es in den kommenden fünf Jahren sein, Ideen und Wege zu finden, um die Energieversorgung des Landes klimaneutral und zuverlässig zu gestalten und auf die Transformation vorzubereiten. Das Land Niedersachsen und die Volkswagenstiftung fördern das Projekt mit einer Rekordsumme: Wissenschaftsminister Falko Mohrs übergab bei der Kick-off-Veranstaltung in Hannover einen symbolischen Scheck über 58,2 Millionen Euro an Sebastian Lehnhoff, Sprecher des Konsortiums aus dem Forschungsprogramm und dem Energie-Forschungszentrum Niedersachsen, das das Programm koordiniert.
Die Erwartungen sind groß: Die Ergebnisse und der Wissenstransfer werden sich auch daran messen lassen müssen, ob sie spürbare Verbesserungen für die Bürger liefern, sagte Mohrs anlässlich der Scheckübergabe. „Die größte Verbundforschung in Niedersachsen geht einher mit großer Verantwortung.“
Sechs Forschungsplattformen
Daher steht nicht nur die Offshore-Windenergie im Blick der Forschenden. Insgesamt sechs eng miteinander verzahnte Forschungsplattformen und -themen bilden „Ten.EFZN“: Ammoniak als potenzieller Energieträger der Zukunft, Digitalisierung der Energiesysteme sowie die Nutzung unterirdischer Reservoire für Wärmespeicher und innovative Wärmepumpentechnologie stehen für die technischen Themen. Die Forschungsplattform „Soziale Dynamiken der Energietransformation“ untersucht die gesellschaftliche Seite der Transformation. „Der Blick in die aktuellen politischen und medialen Debatten zeigt, dass die zentralen Herausforderungen der Energiewende keinesfalls nur im technischen, sondern gerade im gesellschaftlichen Bereich liegen“, sagte Berthold Vogel vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen Sofi und Mitglied des Projektkonsortiums. „Die Energiewende ist eine soziale Frage.“ Sehr konkret solle untersucht werden: Was ändert sich im Quartier, im ländlichen Raum? Wie sind die Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft?
180 Forschende an 15 Einrichtungen in Niedersachsen sind in das Forschungsprogramm involviert.
Deshalb wird auch in den anderen Säulen die gesellschaftliche Frage thematisiert und die Zusammenarbeit mit der Plattform „Soziale Dynamiken“ gesucht. Beispiel Forschungsplattform Wärme: Die Wärmepumpentechnologie ist der Schlüssel für die effiziente Kopplung des Wärmesektors an den Stromsektor, so die Ausgangsthese. Ziel der Wissenschaftler ist zum einen, eine innovative „Plug-and-Play“-Wärmepumpe mit standardisierten Anschlüssen zu entwickeln, die sich einfach und schnell in das Gebäudeenergiesystem integrieren lässt. Zum anderen wollen die Forschenden ein Auslegungstool für Großwärmepumpen bereitstellen, das vor allem in der Fernwärme, aber auch in Industrie und Gewerbe eine beschleunigte Planung erlaubt. Man wolle die Wärmepumpe wieder aus der Schmuddelecke holen, in die sie durch die Diskussionen um das Heizungsgesetz geraten sei, hieß es beim Kick-off.
Genauso wichtig wie der Umbau der Wärmeversorgung ist die Digitalisierung der Energiewirtschaft. Die dafür zuständige Forschungsplattform „Vertrauenswürdige Digitalisierung sicherheitskritischer Energiesysteme“ setzt dabei nicht nur auf zuverlässige technische Entwicklungen, sondern will gleichzeitig das Vertrauen der Menschen in die Digitalisierung stärken.
Forscher liefern – Politik muss handeln
Und was bedeutet das für das „Reallabor 70 GW Offshore Wind“? Auch hier geht es den Wissenschaftlern um die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Ausbau einhergehen. „Das umfasst mehr als nur Akzeptanz“, betont Schumann. „Es geht darum, schon im Vorhinein gesellschaftliche Fragen mitzudenken und diese auch immer wieder an die Situation anzupassen.“
Ganz konkret wollen die Forschenden untersuchen: Wie verändert sich die Region durch den Ausbau von Hafenkapazitäten oder Industrieansiedlung? Wer profitiert? Welche Konflikte gibt es mit Tourismus oder Landwirtschaft? Und was bedeutet das letztlich für die Bevölkerung an der Nordsee? Am Ende sollen Handlungsempfehlungen für die Politik stehen. Und so wird denn auch die Verantwortung, die Minister Mohrs den Forschenden ans Herz gelegt hat, wieder zurückgespielt.
Am Forschungsprogramm beteiligte Institutionen
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt; Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme; Georg-August-Universität Göttingen; Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover; Helmholtz-Zentrum Hereon; Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen; Institut für Solarenergieforschung GmbH Hamel; Liag-Institut für Angewandte Geophysik; Offis – Institut für Informatik; Physikalisch-Technische Bundesanstalt; Soziologisches Forschungsinstitut an der Georg-August-Universität Göttingen; Steinbeis-Innovationszentrum Energieplus; Technische Universität Braunschweig; Technische Universität Clausthal; Universität Vechta. Zusammengebunden wird das Programm vom Energieforschungszentrum Niedersachsen.