Wahrzeichen des Schwarzwaldes sind längst nicht mehr nur Kuckucksuhren, Schoko-Kirsch-Torten oder mit Bällen aus roter Wolle verzierte Frauenhüte, sondern auch Technik wie Seilbahnen, das Bierbrauen und elektrische Tontechnik. Am Standort Kallenwald mit 545 Höhenmetern auf dem Rücken eines zurückgelegenen Berges an der Westseite des Mittelschwarzwaldes bietet sich seit diesem Frühjahr eine Windenergieanlage als neues Wahrzeichen für das Verbinden von Technik, Tradition und Naturraum an. Die bis zur Blattspitze 230 Meter aufragende Enercon-Turbine E-138 mutet in dem bisher weitgehend windparkfreien Schwarzwald, um im Bild zu bleiben, womöglich so fremd wie eine übergroße, im Freien aufgestellte Kuckucksuhr auf einer Nordseehallig an. Doch die symbolische Bedeutung der 4,2 Megawatt (MW) leistenden Anlage ist nicht zu überschätzen. Ab sofort deckt sie mehr als ein Viertel des jährlichen Strombedarfs des benachbarten alteingesessenen Duschbrausen-Weltkonzerns Hansgrohe für dessen vier nähere Schwarzwald-Werke.
Ein langfristiger Stromliefervertrag – im Wirtschaftsenglisch ein PPA – lässt allen Hansgrohe-Standorten im Bilanzkreisgebiet des Stromnetzbetreibers bei zusammen 36 Gigawattstunden (GWh) Strombedarf die bis zu 10 GWh des Windrades zukommen. Dessen Projektierer und Eigentümer ist der kommunale Energieversorger Badenova aus Freiburg. Der Vertrag gilt vorerst bis 2029.
10 Gigawattstunden an jährlicher Erzeugung der 4,2-Megawatt-Windturbine am Standort Windpark Kallenwald decken seit dem Frühjahr mehr als ein Viertel des Strombedarfs in den benachbarten Werken des Konzerns Hansgrohe.
Das PPA ist für Badenova so etwas wie ein Testballon, auch wenn das Versorgungsunternehmen es nicht so nennt. Dass aber ein regionales Industrieunternehmen als Arbeitgeber der umliegenden Täler hier nun einen regionalen Energieversorger Strom für sich ernten lässt, habe „sicherlich eine Rolle für die gute Akzeptanz des Projektes gespielt“, sagt der Geschäftsführer der Badenova-Tochter Wärmeplus, Michael Klein. Wärmeplus betreibt die Kallenwald-Turbine, die es als eine von ganz wenigen modernen Windenergieanlagen nach dem nur dreijährigen Bauboom von Windparks in Baden-Württemberg von 2015 bis 2017 im „Ländle“ seither ans Netz geschafft haben und gegen deren Bau es kaum öffentlichen Widerstand gab. Die Einbettung der Anlage in die regionale Versorgung über das PPA ist für Klein gleichwohl „eher das Sahnehäubchen als ein planbarer Regelfall“ – ein das Projekt verzierender Glücksfall also.
Einstieg in Industriedirektversorgung
Doch soll es Grünstrom-Direktversorgung der Industrie in Zukunft bei Badenova öfter geben, wie Christoph Armbruster bestätigt. Er ist seit Mai 2022 der Leiter des Geschäftsfeldes Ressourceneffizienz Industrie/Gewerbe. „Diese direkte Kopplung mit PPA ist jetzt ein ganz essenzielles Thema für uns“, sagt Armbruster. Mit einigen weiteren Unternehmen der Industrie sei das Versorgungsunternehmen über Projekte im Gespräch. Hätten Unternehmen noch vor wenigen Jahren überwiegend nach kurzfristig günstigen Stromtarifen verlangt, suchten mehrere produzierende Betriebe nun nach langfristig stabilen Konzepten für ihre Versorgung mit grüner Energie. Sie wollten damit nicht zuletzt auch ihre Produkte als nachhaltig und deshalb hochwertig vermarkten können.
Bei dem kommunalen Versorgungskonzern aus Baden – Anteilseigner sind 96 Kommunen der Region – gilt wie bei anderen deutschen Kommunalversorgern die unausgesprochene Devise, ab sofort an allen Aufgaben der Energiewende mitwirken zu müssen. Weil die Politik immer neue Aufgaben für die städtische Energieversorgung definiert und dennoch kaum eine Strom-, Wärme- oder Verkehrstechnologie langfristig verlässlich fördert, gilt in Freiburg wie bei anderen Kommunalversorgern die Regel: Von der E-Mobilität bis zur Geothermie oder vom Fernwärmeausbau bis zur Installation von Photovoltaik-Dachanlagen im Auftrag privater Hausbesitzender ist alles Teil entweder des bestehenden Angebots oder der künftigen Investitionen.
Diese direkte Kopplung mit PPA ist jetzt ein ganz essenzielles Thema für uns.
Hinzu kommt: Bis 2035 will das Management in Freiburg mit dem Unternehmen klimaneutral agieren, also unterm Strich CO2-frei, ohne die Atmosphäre mit zusätzlichem Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) zu belasten. Eine Terawattstunde Wärme wollen die Südbadener gemäß ihrem 2022 angekündigten Klimakonzept dann auf Basis erneuerbarer Energien oder industrieller Abwärme pro Jahr erzeugen. Die Grünstromerzeugung sollen Erneuerbare-Energien-Anlagen mit einem Gigawatt Erzeugungskapazität übernehmen. Als Leuchtturmprojekt zur Wärmeversorgung projektieren sie nun eine Geothermieanlage in der Region. Neue Wärmenetze sind ebenso geplant. Die Erneuerbaren-Kapazitäten für Strom sollen zu einem wichtigen Teil durch den Bau eigener, am besten regionaler Windparks mit zusammen 300 MW entstehen. Alleine in den kommenden fünf Jahren, also bis 2029, will der Konzern 1,1 Milliarden Euro investieren.
Investoren einbinden
Das erfordert nicht zuletzt einen finanziellen Kraftakt. Nach ohnehin schon seit 2019 mindestens verdoppelten jährlichen Investitionen von im Mittel etwa 100 Millionen Euro müssen nun also mehr als 200 Millionen Euro im Jahr in die Energiewende von Badenova fließen. Das entspricht dem Trend der Stadtwerke: Anlässlich des jährlichen VKU-Stadtwerkekongresses hatte im September der Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU), Ingbert Liebing, auf verbandseigene „Abschätzungen des steigenden Investitionsbedarfs“ der Stadtwerke um den „Faktor drei bis fünf“ verwiesen. Dass sie das Kapital dafür selbst alleine aufbringen, erscheine unmöglich, betonte Liebing beim Kongress in Hannover. Stattdessen müssen sie privates Investorenkapital einbinden, wie auch die Podiumsbeiträge auf dem VKU-Kongress in Hannover verdeutlichten.
Auch deshalb ist die Dienstleistung an der kompletten Energiewende der Unternehmen für Badenova wohl ein besonders spannendes Geschäftsfeld. Geben die Firmen, um ihre Klimaschutzziele zu erfüllen und sich stabil mit grüner Energie zu versorgen, ihr Geld in Energieprojekte der Stadtwerke, können die Versorger ihr Eigenkapital für weitere Projekte schonen oder strecken.
Abwärme aus Molkerei
So eröffnete Badenova schon im November vorigen Jahres nach einer Investition von 16,5 Millionen Euro inklusive Sechs-Millionen-Bundesförderung auf dem Gelände des Freiburger Molkerei- und Milchprodukteunternehmens Schwarzwaldmilch eine Energiezentrale. Sie schöpft bildhaft die Abwärme aus der Produktion der Milchprodukte ab wie das Milchunternehmen den Rahm der Milch. Badenova leitet die Niedertemperaturwärme von 30 Grad Celsius aus der Kühlung und dem Betriebsabwasser nach weiterer Erwärmung auf 85 Grad ins Fernwärmenetz zur Mitversorgung dreier benachbarter Stadtteile mit einer Energieleistung von 4,38 MW. Die Anlage ist das erste von insgesamt sieben Projekten in einem Wärmeverbund, den die Badenova AG bis 2025 durch Zusammenschluss mehrerer Wärmenetze und dezentraler Energieanlagen zur Versorgung der südlichen Stadtteile zusammenstellen will.
Im Oktober gab zudem die Bundesnetzagentur grünes Licht für die Badenova-Industrieversorgung mit Wasserstoff (H2). Um präzise zu sein, genehmigte die Bundesbehörde das förderfähige nationale Kernnetz zur künftigen Versorgung insbesondere der Industrie mit H2 aus Ökostromelektrolyse. Zum Wasserstoffkernnetz, das sogenannte Backbone-Langstrecken-Pipelines sowie auch Stichstrecken enthält, gehört eine 50 Kilometer lange H2-Pipeline der Badenova-Netztochter zur Versorgung der Industrieansiedlungen am Hochrhein entlang der Schweizer Grenze. Die ersten 8,5 Kilometer davon sollen schon bis 2025 oder vielleicht 2026 fertig werden, die gesamte Pipeline bis 2030. Spätestens 2027 will der Energiekonzern RWE hier als Badenova-Partner einen 50-MW-Elektrolyseur zur Herstellung des emissionsfreien Energieträgers H2 an einem bestehenden Wasserkraftwerk an der geplanten Pipelinestrecke mit dessen Strom in Betrieb nehmen.
5 Megawatt leistende, kleinere dezentrale Elektrolyseure sind das Maß für das von Badenova vorbereitete Konzept zur Erzeugung von grünem Wasserstoff für Industrieunternehmen. Die Unternehmen können den emissionsfreien, klimaneutralen Energieträger dann als Prozessenergie in ihren Werken nutzen.
Nach diesem Startschuss will Badenova zudem für Industrieunternehmen kleinere und dezentrale Elektrolyseure mit einer Erzeugungskapazität von 5 MW errichten, um für sie womöglich über Pachtmodelle die Prozessenergie zu liefern. Das Angebot ziele insbesondere auf „Regionen, die auch perspektivisch keine Versorgung durch die Backbone-Leitungen erhalten werden“, sagt Badenovas Industriekundenexperte Armbruster. Der erste dieser dezentralen Elektrolyseure soll 2026 in Freiburg in Betrieb gehen – kombiniert mit einer Wasserstofftankstelle und einer Photovoltaikanlage zur Grünstromversorgung der Elektrolyse.
Industrie verlangt Flexibilisierungsdienste
Die Südbadener erwarten, dass Industrieunternehmen in den kommenden drei bis vier Jahren ihre Stromabnahme zunehmend gemäß schwankenden Strompreisen regulieren wollen. „Die Flexibilisierung wird ein ganz großes Thema der Industrie“, sagt Armbruster. Photovoltaikanlagen auf Firmengeländen könnten hierbei in Verbindung mit thermischen oder Batteriespeichern die Last- oder auch die Einspeisespitzen im Netz vermeiden helfen. Badenova könnte ihnen einräumen, mit künftigen variablen Stromtarifen in Tiefpreisphasen ihre Stromabnahme durch Hochfahren ihrer Produktion zu steigern und so Geld zu sparen. „Wir sind da mitten in der Simulierung dieser Anlagen, die wir zur Verfügung stellen könnten.“
Hansgrohe hat mit Badenova Wärmeplus in diesem Jahr auch ein Transformationskonzept entwickelt. Das soll den Weg des Unternehmens für seinen Komplettumstieg auf Erneuerbare-Energien-Versorgung aufzeigen. Schon seit 2021 arbeiten alle deutschen Hansgrohe-Standorte klimaneutral, emittieren also auch bei unvermeidbarem Treibhausgasausstoß nicht mehr CO2, als sie durch Finanzierung zertifizierter Klimaschutzprojekte ausgleichen. Zudem nutzen die deutschen Werke nur Grünstrom, das Gros des Verbrauchs sichert Hansgrohe durch den Kauf zertifizierten Stroms aus Skandinavien ab, den garantiert neu gebaute Erneuerbare-Energien-Anlagen produzieren.
Künftig soll Hansgrohe auch die Grünstromerzeugung aus regionalen eigenen Anlagen oder mittels PPA bestreiten. So weitet das Unternehmen die begonnene Ausstattung der Werksdächer mit Solarmodulen auf alle deutschen Standorte aus und verzehnfacht damit seine Sonnenkraft auf rund 2.000 Kilowatt. Ein gezieltes Lastmanagement zur Stromnutzung im Einklang mit dem Aufkommen der eigenen Stromerzeugung oder mit der Netzauslastung „soll im Zuge des dekarbonisierten, flexibleren Energiesystems ebenfalls mit implementiert werden“, so kündigt es Hansgrohe an.
Dabei hat sich Hansgrohe inzwischen bewusst gegen eine Einspeisung von Abwärme ins öffentliche Fernwärmenetz entscheiden. Mit der Abschöpfung der Temperatur aus den eigenen industriellen Prozessen kürzt das Unternehmen lieber seinen Gasverbrauch erfolgreich um bis zu 70 Prozent.
Die Industrieabwärme zu nutzen, wertet Badenova-Ressourceneffizienzmanager Armbruster aus der Perspektive des möglichen geschäftlichen Potenzials für Stadtwerke als „schlafender Riese“. Doch Hansgrohe dürfte nach eigener Auskunft eine Kooperation mit dem regionalen Energieversorger eher beim Einrichten von Sektorenkopplungsanlagen für die Flexibilisierung der Energienutzung suchen. Anlagen zur Umnutzung überschüssigen Stroms für die Wärmeversorgung oder Kühlung und gegebenenfalls Batteriespeicher sollten künftig zum Einsatz kommen, teilt der Badarmaturenhersteller auf Anfrage mit. Es könnte ein weiterer schlafender Riese im Geschäftsbereich der Stadtwerke sein – genauso wie die Windenergienutzung mit PPA.