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Kurzer Draht aus Forbach

Tilman Weber

Der drahtig-schlanke Mann mit dem grauen, halslangen Kinnbart hat nach seinem tanzartigen Einsatz an der Extrusion, der Ummantelungsstation für Kabeladern, nur 4:14 Minuten auf der Uhr stehen. Der Vorstand für Technik und Innovation aus der Stuttgarter Zentrale des Kabelherstellers Lapp, Hubertus Breier, lobt den Mitarbeiter, den sie hier in Forbach Gabriel nennen. Der Testlauf für das Umrüsten auf die nächste Kabelbestellung gilt in diesem Moment als jüngster Rekord, nachdem das Umrüsten vor einem Jahr noch vier Stunden gedauert hatte.

Zuvor hatten die Reformer des Lapp-Kabelwerkes Câbleries Forbach in der lothringischen Nachbarstadt von Saarbrücken auch bereits in einer Aderstraße einen U-förmigen Verlauf eingebaut. Mitarbeitende haben dort beim Aderwechsel nun 96 Prozent weniger Strecke zurückzulegen. Sie drehen sich mehr und vollziehen ihre Handgriffe in geringer Reichweite, statt für das vielstufige Umspannen auf die nächste Kabelader lange, gerade Strecken abzulaufen. Nicht nur ein enormer Zeitgewinn.

96 Prozent weniger Wegstrecke müssen Bedienende einer Aderproduktionsanlage gehen, seit die die Strecke zum Umrüsten auf ein neues Kabel zum U geformt ist. Eines vieler Beispiele der Câbleries, wo sehr viele Maschinen den Platz wechseln.

Die Reform war schon deshalb fällig, weil der schwäbische Kabelhersteller für die Transformation unserer Energieversorgung immer mehr Bestellungen für Kabel mit projektspezifischen Eigenschaften und Längen von wenigen Tausend oder sogar weniger Metern erhält. Auch die Nachfrage nach Verbindungslösungen für die Transformation unserer Energieversorgung steigt. Schon 2.000 Produkte hat er nun im Portfolio. Um vorne dranzubleiben, ermöglicht der Kabelindustrie-Marktführer die kürzeren Taktzeiten und individuellen Aufträge, steigt sogar als Konzeptdienstleister für Projekte der Kunden mit ein. Spezialkabel sind gefragt für Photovoltaikparks, für Steuerungs- und Servoleitungen zur Leistungsversorgung der Stellmotoren der Windturbinen-Rotorblätter, für Elektromobilität – oder zur Verkabelung einer auf Digitalisierung und Energieeffizienz getrimmten Fabrik. Weil eine Aderstraße 1.000 Meter pro Minute ausrollt, musste Lapp früher die Produktion bei kurzen Kabellängen schon verlangsamen. Sonst würden die Bediener der Maschine beim parallelen Umrüsten auf die nächste Kabelstrecke mit der kurzen Produktionszeit nicht mithalten. Die neue U-Form erlaubt wieder schnelleren Kabelausstoß.

Die zeitliche Verkürzung ganz anderer Dimension bei der Extrusion, an der Ummantelungsstation für Kabeladern haben die Reformer um den geschäftsführenden Generaldirektor des Lapp-Werkes in Forbach, Stéphane Kaczmarek, durch Einbau einer Zwillingsstation erreicht, mit Rüstzeiten von nur noch höchstens zehn Minuten. Wechseln Anlagenbedienerinnen oder -bediener hier die Kunststoffbeschichtung so wie jetzt gerade vom PVC zum thermoplastischen Polyurethan, haben sie nach dem Einfädeln in die schon vorbereitete neue Extrusion viel Zeit. Die notwendige Prozedur – die Maschine stoppen, abkühlen lassen, Schnecke ausbauen, reinigen, wiedereinsetzen, mit dem Kabel bestücken und die Temperatur wieder hochfahren – hält den Betrieb nicht mehr auf.

Revolution der gesamten Produktionskette

Es sind zwei Beispiele für eine durchgehende Revolution entlang der Wertschöpfungs- und Produktionskette, die Forbach im Auftrag der Führung aus Stuttgart in einem Fünfjahreszeitraum seit 2022 noch bis 2027 vollzieht. In einem mit langen interaktiven Bildschirmen bestückten Kommando- und Planungsraum konstruieren Kaczmarek, sein Führungsteam und eigene Ideen einbringende Vertreter der Belegschaft sowie Technologiezulieferer wie der französische Spezialist für Extrusionslinien Komax die Fabrikanlage aus vielen neuen Modulen. Auf den Bildschirmen lassen sich die Module – technische Neuheiten, Organigramme, Investitionen, ein Hallenneubau und vieles mehr – mit der Hand verschieben. Programme im Hintergrund errechnen, was zeitlich oder finanziell herauskommt.

„Wir müssen eine sehr steile Lernkurve für wettbewerbliches Wachstum gehen und unsere Effizienz, Geschwindigkeit, Flexibilität und Nachhaltigkeit rasch erhöhen“, sagt Kaczmarek. In „fünf bis zehn Jahren“, so vermutet er, werde Lapp in Forbach zu einem Großteil schon Kabel für Erneuerbare-Energien-Anlagen ausliefern.

Kaczmareks Verweis auf die Transformation der Energieversorgung beschreibt den Kern seines Auftrags: Die Câbleries sind die größte Produktionsanlage der Firmengruppe mit einem Ausstoß von jährlich schon deutlich mehr als 100.000 Kilometern Kabel. Dafür verarbeiten die Lothringer pro Jahr eigens Tausende Tonnen Kupfer. Forbach soll nun Musterwerk werden und den 18 anderen internationalen Produktionsstätten des Kabelzulieferers vorführen, wie die Anpassung an neue Herausforderungen geht. Müssen Zulieferer wie Lapp doch steigende Energie- und Rohstoffkosten, Lieferengpässe von Schlüsselkomponenten und eben zunehmende, kleinteiligere, projektbezogene Einzelaufträge bewältigen.

Mehr Maße, mehr Ausstoß, mehr Gewinn

Forbach hat sehr konkrete Ziele: Lapp baut dort eine weitere Halle mit 6.000 Quadratmetern Werkfläche dazu, um dann auf 28.000 Quadratmetern zu produzieren und die neu ausgeklügelte Logistik zu betreiben. Ein Großteil der Maschinen werde den Platz wechseln. Dann werde die Câbleries drei Mal so viel produzieren und einen höheren Ertrag einspielen. „Wir erwarten ein verbessertes Ebit“, sagt Kaczmarek. Die Kostenexplosionen bei Energie, Rohstoffen wie Kupfer oder auch den zigtausenden jährlich benötigten hölzernen Kabeltrommeln sollen die französischen Pioniere des schwäbischen Mittelständlers mehr als ausgleichen. Haben die Stuttgarter in ihrer Vergangenheit ihre Marktführerschaft immer wieder durch innovative Kabelkonzepte und kluge Ansiedlung neuer Werke und Produktlinien an mittlerweile 19 Herstellungsstandorten global abgesichert, passen sie nun das ganze Werk an.

Wir müssen eine sehr steile Wachstumskurve gehen.

Stéphane Kaczmarek, geschäftsführender Generaldirektor, Câbleries Lapp, Forbach

Der Wandel wird in Forbach so grundlegend ausfallen wie der Verpuppungsprozess einer Insektenlarve. Er betrifft alle Produktionsstraßen – angefangen beim Drahtziehen in einem Kaltumformungs- und anschließenden Wärmehärtungsprozess. Dieser lässt aus millimeterdicken Kupferdrähten 0,16 Millimeter dünne Kupferhaare werden. Der Wandel betrifft danach die Verseilung der Kupferhaare zu Litzen – der auch Verlitzung genannte Prozess verdreht die Kupferhaare zu Einzelleitungsadern–, dann die erste Extrusion, die Kunststoffummantelung der Adern sowie schließlich die Flechterei, die solche Adern zum Schutz vor physischer Beanspruchung mit verzinnten Kupferdrähten umflicht. Eine neue Verzinnungsanlage in Forbach stellt diese Kupferdrähte her. So macht Lapp die Adern in Photovoltaik- und Windenergieanlagen zudem immun gegen Magnetfelder von Nachbarkabeln. Auch die Innenmantelextrusion, die einen Kunststoffkern im Kabel entstehen lässt und dessen runde Form garantiert, die zweite Verseilung der bereits isolierten Adern, um zum Beispiel Kabel flexibel für Drehungen der Rotorblatt- oder Maschinenhausausrichtungen zu machen, und die Schlussextrusion zur Außenummantelung dürften betroffen sein: Auch an anderen Lapp-Standorten kommen neue Techniken zum Einsatz, so eine nun in Stuttgart getestete Rohrverseilungsanlage, die viel schneller rotiert als die herkömmliche Korbverseilung. Und weitere Zwillingsanlagen an vielen Stellen der Produktionsstraße sollen die Umrüstzeiten überall radikal verkürzen.

Innovationen, Redundanzen und die neue Architektur von Werkstrecken sollen es also richten. Die Belegschaft wird kaum wachsen, während die Vollautomatisierung voranschreitet.

Automatisierung der Warenströme

Tatsächlich: Der reine Produktionsprozess braucht keine Menschenhände mehr; zum Kabeleinlegen, Überwachen und Steuern der Produktionsanlagen sind Mitarbeitende aber gefragt. Und während diese beim Umrüsten der Maschinen auf die Kabelaufträge dank neuer Redundanzen in der Produktionsstraße schneller werden, fällt bald das An- und Abfahren leerer und neu gefüllter Kabeltrommeln oder der Produktionsmaterialien weg. In einer Hallenecke fährt bereits ein Transportroboter zum Test. Solche Roboter sollen die Warenströme zwischen den Produktionsstraßen bewegen und etikettieren.

Eine der Hallen wird zum Zentrum der Kupferverarbeitung und der Verteilung des Materials in alle Werkhallen dienen. Künftig soll Forbach zudem als Kupferdrehscheibe auch andere Lapp-Kabelwerke in Europa mit dem Rohmaterial beliefern. In einer anderen Halle erproben die Entwickler noch Recyclingprozesse, um das komplette Verschnittmaterial zur Produktion neuer Kabel zu nutzen.

Um die Transformation der Energieversorgung rund zu machen, wird Forbach die eigene Energieversorgung teils auf Gleichstromkabel umrüsten. Die reduzieren den Stromverbrauch und brauchen weniger Material, weil sie eine Ader weniger als Wechselstromkabel haben. Die Gleichstromversorgung erfordert auch eine Umrüstung der elektrischen Infrastruktur. Die Lothringer wollen Industriekunden vorführen, wie sehr sie sich lohnt – und diesen dann in Forbach gefertigte Gleichstromkabel liefern. W

Lapp-Mitarbeiter kurz vor der Extrusionsanlage: Rekordlauf zum Einspannen der Kabelader

Foto: Wolfram Scheible - Lapp

Lapp-Mitarbeiter kurz vor der Extrusionsanlage: Rekordlauf zum Einspannen der Kabelader

Strategie 2027

Umwälzend gestaltet Lapp die Produktionsprozesse im unternehmens­intern größten Kabelwerk im lothringischen Forbach neu. Auf 15 Prozent mehr Hallenfläche soll es 2027 drei Mal mehr produzieren und mehrfachen Gewinn abwerfen. Wie? Durch Redundanz – Maschinenpaare zum Wechsel von einem zum nächsten Produkt, ohne Zeit fürs Umrüsten zu verlieren –, durch Automatisierung und durch Innovationen: so bei der Kunststoffummantelung. Im neuen Extruder reichen niedrigere Temperaturen und weniger Druck von 250 statt bisher 600 Bar.

Foto: Lapp - Wolfram Scheible

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