Slogans zur Windenergie-, Solar-, Elektromobilitäts-, ja sogar Wasserstoff- oder Wärmepumpenwende prägen die Energiepolitik hierzulande wirksam. Von der Smart-Grid-Wende ist in Deutschland dagegen auch 2023 noch keine Rede. Dabei ging die Forderung nach intelligenten Netzen mit zu- und abschaltenden Gefriertruhen oder Autoladestationen, die sich am wetterabhängigen Angebot von Wind- und Sonnenstrom orientieren, schon vor mehr als einem Jahrzehnt bundesweit um. Nun hat das kluge digitalisierte Stromnetz womöglich seinen realistischen Fahrplan bekommen. Mit dem „Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende“, das im Mai sieben Jahre nach dem ersten Energiewende-Digitalisierungsgesetz in Kraft trat, und einer Zusatzregelung im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) könnten Smart Grids sogar größer und wichtiger werden als ursprünglich erdacht. Dank fortentwickelter Technologien winken auch für den Erneuerbaren-Ausbau weitreichende Innovationen.
6.000 Kilowattstunden ist die untere Verbrauchsgröße für die ersten großen Stromverbraucher, die Smart Meter für intelligente elektrische Netze erhalten. Ab 2025 darf auf Wunsch dann jeder Haushalt teilhaben.
Der gesetzliche Fahrplan sieht vor, dass privat beauftragte Messstellenbetreiber oder die Netzbetreiber alle Haushalte und Unternehmen mit mehr als 6.000 Kilowattstunden (kWh) bis 100.000 kWh Stromverbrauch im Jahr ab sofort mit Smart Metern und Smart-Meter-Gateways ausstatten. Dasselbe gilt für Betreiber einer Photovoltaikanlage oder einer Wärmepumpe. Ab 2025 sollen dann alle Stromverbraucher diese digitalen Mess- und Kommunikationssysteme bestellen können. Und ab 2026 müssen alle Stromanbieter flexible dynamische Stromtarife anbieten, damit Kunden ihren Stromverbrauch mittels Smart Metering auf Phasen überschüssigen Grünstroms ausrichten und bei niedrigen Stromhandelspreisen günstig Elektrizität beziehen. Ende 2028 müssen auch 20 Prozent der energieintensiven Unternehmen mit mehr als 100.000 kWh Verbrauch ausgerüstet sein. Der Umbau aller kritischen Netzzonen zu Smart Grids steht bis Ende 2029 an.
Während jeder Verbraucher sich mit nur 20 Euro im Jahr an den Betriebskosten beteiligen soll, regelt der neue Paragraf 14a für „steuerbare Verbrauchseinrichtungen“ im EnWG, dass diese auch ihre Geräte vom Netzbetreiber ab- oder hochregeln lassen können und dafür weniger Netzentgelt zahlen. Der Netzbetreiber darf das aber nur, um akute Überlastungen der Leitungen zu vermeiden.
Netz für sinnvoll genutzten Grünstrom
Wieso aber sollen nun Smart Grids entstehen, wo das vorige Energie-Digitalisierungsgesetz verpuffte? Fakt ist: Technologie und Ausbau der Erzeugungskapazitäten für Grünstrom sind viel weiter fortgeschritten. Umso weitreichender wird es nun: So vergleicht der Stadtwerkeverbund VKU die Aufgabe eines intelligenten Netzes mit der Verkehrsregelung auf Autobahnen. Bekanntlich bekommen die Bundesländer zeitverschoben Schulferien, damit der Staat die Autobahnen nicht für die unvorstellbaren Lastspitzen eines zeitgleichen Reiseverkehrs aller Auto fahrenden deutschen Familien ausbauen muss. Ähnlich sollten Smart Grids vermeiden, Stromnetze durch massivsten Ausbau „am maximalen Strombedarf fürs Laden von E-Mobilen oder Wärmepumpen ausrichten“ zu müssen. Während Smart Grids mehr Photovoltaikanlagen, mehr Wärmepumpen, mehr Ladestationen an die pulsierenden Niederspannungs-Stromadern in Städten und Gemeinden andocken lassen, garantiere die dem Netzbetreiber eingeräumte Steuerbarkeit der Verbrauchsgeräte, kurzfristige Überlasten auszubremsen.
Das Lob vom Verband kommunaler Unternehmen (VKU) gilt der Paragraf-14a-Regelung im EnWG: Wo die Netzbetreiber ihn anwenden müssen und steuerbare Verbrauchsgeräte zu- oder abschalten, müssen sie danach die Netze zügig ausbauen, steht da. Dabei bleibe ein Ausbau städtischer Stromnetze auf die doppelte Kapazität notwendig, heißt es beim VKU und auf Netzbetreiberseite.
Fortgeschrittene Netzintelligenz könnte indes weit mehr Energiewende im Stromnetz zulassen, als es der Vorstellung gleichmäßig befahrener Autobahnen entspricht. Was wäre, wenn intelligente Steuerung, um im Autobahnbild zu bleiben, auch den Spritverbrauch reduziert oder flexibel, hoch pünktlich reisende Fahrgemeinschaften zusammenstellt?
Aktuell bauten die VKU-Unternehmen nur die Smart Meter ein. Doch „kurz- und mittelfristig“ werde „die Digitalisierung der Verteilnetze als weitere Aufgabe“ hinzukommen, sagt ein Sprecher des Verbands zu ERNEUERBARE ENERGIEN.
Pilotprojekt: eingebaute Selbstregulierung
Was Netzintelligenz können wird, versucht der Energiemanagementspezialist Hager Group vorauszusehen. Hager baut im Auftrag der Stadtwerke Saarbrücken über die funkähnliche Lo-Ra-Wan-Technik ein Ersatz-Smart-Metering auf, weil aktuell nicht genügend Smart-Meter-Gateways lieferbar sind. Das Technologieunternehmen entwickelt dabei eine erste Netzintelligenz mittels seiner Energiemanager-Geräte. Diese könnten Kundenwünsche vorweg kalkulieren – etwa im Winter vor der Rückkehr eines Stromkunden vom Arbeitsplatz nach Hause die Wärmepumpe anwerfen und das Elektroauto erst zur Schlafenszeit laden.
Im Hintergrund aber designen die Entwickler aus dem Saarbrücker Umland bereits ein System mit, das ganze Straßenzüge zu Smart Grids mit eingebauter Selbstregulierung zusammenfasst. Konkret vernetzt das Hager-Konzept alle Stromkunden hinter einer Ortsnetzstation zu Gemeinschaften, deren Energiemanager untereinander automatisiert den Mehrbedarf des einen durch den nicht verbrauchten Strom der anderen ausgleichen. Der Direktor bei Hager für Lösungen der Zukunftsenergien, Torsten Hager, zielt auf mutmaßlich bevorstehende Leistungskontingente pro Haushalt ab. „In Zeitblocks von 5 bis 15 Minuten definieren die Energiemanager dann feingliedrig, von welcher benachbarten Photovoltaikanlage oder von welchem anderen Gebäude sie nicht gebrauchten Strom dazukaufen, und wem sie nicht gebrauchten Strom abgeben können.“
Haushalte mit zum Beispiel weniger Einkommen, die Strom sparen und ihr Kontingent nicht ausschöpfen, haben somit zusätzliche Einnahmen. Darüber hinaus noch zu viel produzierten Solarstrom geben die Energiemanager dem Netzbetreiber weiter – und damit in den allgemeinen Börsenstromhandel.
Ein absolutes Innovationsthema.
Zu klären bliebe dabei, wer die Verkäufe abwickelt oder ob wirklich Geld zwischen den Beteiligten fließt. Abrechnungsmanager könnten beispielsweise die Netzbetriebsunternehmen sein, bei denen es sich häufig ums örtliche Stadtwerk handelt. Es könnte die Dienstleistung in die Netzentgelte hineinrechnen, müsste vielleicht mit Prognosen wetterabhängiger Erzeugung für den Stromhandel 24 Stunden im Voraus vor der Lieferung arbeiten. „Noch ein absolutes Innovationsthema“, nennt es Hager. Die Technik würde er aber gerne griffbereit haben.
In der Bodenseegemeinde Allensbach hat das 2014 gegründete Start-up Easy Smart Grid die Koordination von Erzeugung und Verbrauch über hoch dynamische Preissignale durchgeprobt. Unternehmenschef Thomas Walter nennt seine Innovation ein „Monopolyspiel, mit dem wir Flexibilität auf der Verbraucherseite ernten und produktiv machen“. Wobei sein Vergleich einzig darauf abzielt, dass sich die Teilnehmer an den Preissignalen wie in einem Spiel orientieren, ohne dass in Allensbach echtes Geld fließt. Die Smart-Grid-Programmierung des Unternehmens aus Karlsruhe soll so die Haushalte ganzer Stadtteile oder auch Kommunen in automatisierte Regelschleifen einbinden. Im Einsekundentakt aktualisiert das Rechenprogramm virtuelle örtliche Preise, die sich anders als die Börsenstrompreise des deutschen Strommarktes aus echtem Bedarf und Angebot im Viertel oder im Netzgebiet an Strom ergeben. „Das geschieht in diesem dichten Takt, um für das Gleichgewicht von Einspeisung und Verbrauch gefährliche Sprungantworten wie bei einer Schwarmreaktion auf viertelstündlich wechselnde Börsenstrompreise auszuschließen“, erklärt Walter.
Würde der örtliche Energieversorger das System scharfschalten und mit Geld abrechnen, müssten die Verbraucher „nichts zusätzlich investieren“. Im Gegenteil: Das System verursache geringere Regelkosten als herkömmlicher Netzbetrieb und ermögliche so Preisnachlässe an die Kunden. Schon 2021 hatte das Allensbacher Modellprojekt die Auszeichnung „Good Practice of the Year“ – den Preis für gute Praxis – erhalten. Preisverleiherin war die Renewables Grid Initiative, eine europaweite Initiative von Umweltschützern und Netzbetreibern. Nun beantragt Easy Smart Grid eine Förderung, um in Kooperation mit den Stadtwerken Konstanz das System auch in einem kompletten Verteilnetz – und verbunden mit echter Abrechnung zu prüfen.
Materialtests für künftigen Netzalltag
Bleibt die Frage, ob Material und Technik die höheren Anforderungen schon bewältigen? In einem 2021 eröffneten Digital Grid Lab testet das Fraunhofer-Institut ISE in Freiburg, ob Energiemanager, Verbrauchsgeräte und einspeisende Energieanlagen mit Wechselrichtern unterschiedlicher Hersteller über lange Zeit stabil miteinander kommunizieren. Auch Aktualisierungen der Betriebsprogramme der Geräte dürfen keine Irritationen im elektronischen Datenaustausch verursachen. Ziel sei es, sagt Laborleiter Bernhard Wille-Haußmann, so belastbare Technik zu bekommen, dass sich Smart Grids auf ganze Regionen ausdehnen lassen.
400 digitale Ortsnetzstationen baut Avacon in Lüneburg und Umgebung ein. Der Verteilnetzbetreiber will die Region zur Vorreiterzone entwickeln. Dort will er bald alle wichtigen Verbrauchs-, Einspeise- und Stromqualitätsdaten in Echtzeit in jedem Netzbereich im Blick haben.
Der Verteilnetzbetreiber Avacon hat indes bereits die Stadt Lüneburg und den umgebenden Landkreis als Modellgebiet bestimmt, um sie bis Ende 2024 mit 400 digitalen Ortsnetzstationen auszustatten. „Straßenzugscharf“ will Projektleiter Florian Hintz danach alle Leistungswerte der Elektrizität mitsamt benötigter sogenannter Blindleistungen in Echtzeit beobachten können und den Netzzustand einschätzen. Die Technik soll es Avacon sogar ermöglichen, vor den Kunden zu erkennen, wo deren Strom kurz ausgefallen ist.
Der in Lüneburg fürs Thema zuständige Stadtrat Markus Moßmann hofft derweil, in Zusammenarbeit mit dem Netzbetreiber die Tragfähigkeit der smarten Netze zu erkennen, um im Stadtgebiet so viele Grünstromanlagen und flexible Verbraucher wie möglich zuzulassen. Zudem plant Lüneburg auf gemeindeeigenen Wald- und Feldflächen neue Windparks und will sich als Stadt beteiligen. Im smarten Avacon-Niederspannungs- und -Mittelspannungsnetz könnten die kommunalen Windkraftplaner ablesen, wo den Turbinen keine Abschaltungen wegen Netzüberlastung drohen und sie unbegrenzt einspeisen könnten. Dort werde Lüneburg sie projektieren.