Die Bundesregierung will die Grenze, bei der Solaranlagen zu zertifizieren sind, von 135 auf 500 Kilowatt anheben. Die Netzbetreiber sind da verdächtig ruhig. Wie sehen Sie das aus Zertifizierersicht?
Marko Ibsch: Wir sind keine Zertifizierungsstelle, sondern wir sind Bindeglied zwischen Zertifizierungsstelle, Projektierer und Netzbetreiber. Tatsächlich ist mir das aber ein riesiger Dorn im Auge. Aus meiner Sicht ist die Branche da viel zu leise. Es fehlt die Gegendarstellung, dass es nicht nur Aufwand, sondern auch Sicherheit ist, die wir mit einer Zertifizierung bekommen. Das BMWK hat aber verstärkt Wert darauf gelegt. Und die Netzbetreiber und die Zertifizierungsstellen haben dann gesagt: Okay, dann machen wir das jetzt und rudern in drei Jahren zurück, wenn wir uns übernommen haben. Viele Zertifizierer sind mit dem aktuellen Zulauf an neuen Anlagen, die zertifiziert werden müssen, schon ausgelastet. Sie haben jetzt schon viel zu tun und der Markt wächst noch weiter, weshalb sie sich Vereinfachungen wünschen. Aber diese müssen auch sinnvoll sein und das sehe ich bei dieser Gesetzesänderung nicht.
Wenn Sie sich gegen die Anhebung der zertifizierungspflichtigen Leistung aussprechen, geht es also nicht darum, dass Ihnen das Geschäftsmodell abhanden kommt?
Nein. Die wenigsten Zertifizierer haben das Problem, dass deren Geschäft wegbricht, denn der Markt wächst. In 2023 sind knapp 4.700 Anlagen mit einer Leistung von 135 bis 950 kW ans Netz gegangen; in 2022 waren nur rund 2.500 Anlagen. Dazu kommt, dass die Projektbeteiligten in dem Segment auch nicht immer alles überblicken, was für die Zertifizierung notwendig ist und die Zertifizierer mit den Anlagen viel Arbeit haben. Das alles zusammen führt dazu, dass einige Zertifizierer sogar fast froh sind, dass sie weniger zu tun haben. Aber es macht eben für die Sicherheit des Stromnetzes keinen Sinn.
Was ist das Problem, wenn die Leistung für die Zertifizierungspflicht angehoben wird?
Wir hatten die Situation in der Niederspannung schon einmal mit der 50,2-Hertz-Problematik. Damals musste man nachrüsten und jede Anlage noch mal neu anfassen und justieren. Meine Sorge ist, dass die Netzbetreiber und die Zertifizierungsstellen in der aktuellen Debatte zwar vor der Entscheidung sachlich argumentiert haben. Sie haben sich aber dann zurückgezogen und lassen das jetzt auf sich zukommen und sie bereiten sich darauf vor, dass später nachgebessert werden muss.
Welche Argumente hatten denn die Zertifizierer in der Debatte?
Sie hatten immer den Umbau des Gesamtsystems von zentral zu dezentral im Blick. Die Akteure müssen – genauso wie die Anlagen – besser abgestimmt miteinander agieren, damit das Stromnetz stabil bleibt. Das Problem sind auch nicht die Zertifikate, sondern die fehlende digitale Vernetzung der Projektbeteiligten und vorhersehbare Anforderungen der Netzbetreiber. Die fehlen leider häufig.
Solarpaket 1: Welche neuen Regelungen wird es geben?
Die Photovoltaik ist ja inzwischen eine etablierte Branche, die zwar immer noch lernt, aber auch schon viel gelernt hat. Wieso sind denn Zertifizierungen der Anlagen immer noch notwendig?
Wir können aus unserer täglichen Arbeit das Ergebnis einer Umfrage unter den Zertifizierern bestätigen: Nur 20 Prozent aller Anlagen sind korrekt geplant. Und selbst wenn diese dann nachgebessert werden und die Planungen dann die Anforderungen der Netzbetreiber widerspiegeln, wird dann wieder ein Großteil nicht korrekt errichtet und parametriert. Weil dann doch beispielsweise abweichende Wandler oder andere Komponenten verbaut wurden. Das lässt darauf schließen, dass sich 80 Prozent der Anlagen nicht oder nur unzureichend an der Systemstabilität beteiligen, was im Falle von Netzstörungen zu Problemen führen wird.
Müsste dann nicht konsequenterweise jede Anlage zertifiziert werden?
Die Notwendigkeit einer Zertifizierung hängt von der Spannungsebene ab. Das Fehlverhalten der Anlagen im Niederspannungsnetz ist nicht so gravierend wie in den höheren Spannungsbereichen. Viele große Solarparks müssen aber über Transformatoren ans Mittelspannungsnetz angeschlossen werden. Sie haben damit einen größeren Einfluss auf die Spannung, auf die Frequenz und andere Parameter. Außerdem geht es auch darum, was man realistisch an Zertifizierung leisten kann. Deshalb ist es wichtig, dass sich vor allem die Anlagen korrekt am Netz verhalten, die einen größeren Einfluss haben. Auf den untersten Ebenen reicht eine Komponentenzertifizierung der Wechselrichter, wo ein bestimmter landesspezifischer Parametersatz eingestellt ist, über den die Anlage gesteuert wird.
Dynamische Stabilität von Stromnetzen mit geringer Schwungmasse
Wäre eine solche Komponentenzertifizierung – vorausgesetzt, die einstellbaren Parameter wären vorhanden – nicht auch im Segment der größeren Anlagen möglich?
Nein, weil im Mittelspannungsnetz ganz andere Anforderungen herrschen. Da gibt es ganz viel projektspezifische Parameter zu berücksichtigen. Es wird eine andere Regelung und eine andere Schutzstaffelung benötigt. Die Anlage muss ganz viele Parameter berücksichtigen, die den individuellen Bedingungen und Anforderungen des Netzes in dem Einbauort Rechnung trägt. Das können die Hersteller gar nicht vorhersehen, weil sie nicht wissen, wo die Komponente eingebaut wird.
Sie sprachen schon die Schnelligkeit des Zertifizierungsprozesses an. Wo liegen denn da die Herausforderungen?
Wir haben in Deutschland knapp 900 Netzbetreiber. Wie diese aktuell aufgestellt sind, funktioniert es nicht mit einer schnellen Zertifizierung. Derzeit sind die Netzbetreiber eine Engstelle im Hinblick auf standardisierte digitalisierte Netzanschlussverfahren. Die Netzbetreiber kommen aus einer Zeit, in der viele Themen noch isoliert betrachtet wurden und jeder in seinem Verantwortungsgebiet unabhängig und eigenständig gestalten konnte. Mit der steigenden Zahl an dezentralen Erzeugungsanlagen müssen die Anforderungen der Netzbetreiber transparent und vor allem vorhersehbar sein. Hier herrscht noch ein großer Flickenteppich. Oftmals kommen die Anforderungen der Netzbetreiber erst wenige Wochen oder gar Tage vor der Inbetriebnahme. Da ist die Anlage natürlich längst errichtet.
„Innovative Konzepte brauchen das Vier-Augen-Prinzip“
Das heißt, die Netzbetreiber müssen sich erst einmal auf einheitliche Regelungen für den Netzanschluss einigen und dann ginge es auch schneller?
Grundsätzlich gibt es schon einheitliche Regelungen für den Netzanschluss. Doch man muss fairerweise auch bedenken, dass jeder Netzbetreiber – zumindest auf Verteilnetzebene – andere Netze hat. Die einen haben lange Freileitungen, die anderen haben ein Stadtnetz. Die Zahl der Erzeuger ist extrem unterschiedlich. Einige haben große induktive Verbraucher. Dadurch muss jeder Netzbetreiber leicht unterschiedliche Anforderungen festlegen, die der Realität des jeweiligen Netzes Rechnung tragen muss. Das mag auch gerechtfertigt sein. Aber technologisch ist das kein riesiges Problem und kein Grund, trotzdem schneller zu werden.
Sondern?
Ein Problem ist, dass es diese konkreten Anforderungen, die die Netzbetreiber haben, nicht transparent im Vorfeld gibt. Planer und Installateure wissen nicht genau, welche Regeln sie einhalten müssen. Sie bauen die Anlagen erst einmal, weil sie wissen, dass sie die Anforderungen an den Netzanschluss erst ein paar Wochen vor geplanter Inbetriebnahme bekommen. Sie machen aber die Planung mindestens ein halbes Jahr vorher, beauftragen den Bau, bestellen die Komponenten. Das Ergebnis ist, dass sie zum Teil vor Ort umverdrahten oder andere Komponenten einbauen müssen. Einige Planer dimensionieren einfach über. Sie bauen einfach alles ein und nehmen in Kauf, dass sie die Hälfte der Komponenten umsonst eingebaut haben, damit die Zeitvorgaben bis zum Netzanschluss eingehalten werden können.
Welche Hürden gibt es denn noch in der Errichtungs- und Zertifizierungsphase?
Neben der fehlenden Transparenz ist auch die Bearbeitung der Anschlussanträge bei den Netzbetreibern sehr langsam, weil diese nicht hinterherkommen. Nicht selten kommt es auch vor, dass die Bearbeiter die Anforderungen spezifisch auslegen. Dazu kommt noch, dass vor allem bei kleineren Netzbetreibern, wo die Bearbeiter auch noch andere Themen auf dem Tisch haben, die Kenntnisse der Normen nicht ausreicht. Dadurch bekommen wir keine Geschwindigkeit in den Zertifizierungsprozess.
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Wie wirkt sich das in der Praxis aus?
Die Mitarbeiter bei den Netzbetreibern sind vielerorts enorm unter Druck. Wenn dann der Normbogen falsch ausgefüllt ist und ein Punkt fehlt, kann es dauern. Die Solaranlage ist zwar fertig und wir warten nur noch, dass der Bearbeiter ein Kreuz auf dem Bogen macht. Aber er hat so viele Fälle auf dem Tisch, dass er das nicht mehr schafft.
Wie können die Netzbetreiber das ändern?
Sie sind aus meiner Sicht noch zu analog aufgestellt. Da stellen wir digital die Anträge. Aber bei vielen Netzbetreibern werden diese ausgedruckt, gelocht und abgeheftet. Die kommen jetzt aktuell mit dem Aufwand schon nicht mehr hinterher mit der Bearbeitung. Das ist auch ein Argument für die Beibehaltung des Zertifierungsprozesses – der dann aber schlanker werden muss.
Warum?
Wenn die Zertifizierung wegfällt, bleibt ja trotzdem die Notwendigkeit, dass sich die Anlagen richtig am Netz verhalten. Die Schutzkonzepte und gegebenenfalls eine Begrenzung der Einspeiseleistung der Anlagen größer 270 Kilowatt müssen trotzdem bleiben. Das heißt, der Aufwand für die jetzt schon überlasteten Netzbetreiber steigt weiter, wenn die Vorarbeit der Zertifizierer nicht mehr gemacht wird. Deshalb mache ich mir ernsthaft Sorgen, dass die Anhebung der Grenze zur Zertifizierung das Gegenteil bewirkt. Denn dann ist zu befürchten, dass der Netzanschluss für die Anlagen noch viel länger dauert, weil die Netzbetreiber nicht mehr mit der Bewertung des Schutzkonzepts und der Einspeiseüberwachung hinterherkommen.
Carbonfreed hat ja eine Plattform entwickelt, mit der die Zertifizierung schneller geht. Wie schnell kann eine Anlage zertifiziert werden?
Der gesamte Aufwand für eine manuelle Zertifizierung beträgt in Summe ungefähr 15 bis 20 Stunden. Diese 15 bis 20 Stunden ziehen sich aber teilweise über drei bis sechs Monate, weil man auf Antworten wartet, weil man auf Informationen wartet, weil man nicht weitermachen kann, weil man noch eine E-Mail schreiben und eine Frage beantworten muss oder aus anderen Gründen. Wenn alles gut vorbereitet ist und die Prozesse schlanker wären, könnte man das in ein bis zwei Tagen schaffen. Da rede ich aber noch nicht von der Nutzung von Echtzeitdaten, oder die Bewertungen der Anlage durch die KI-gestützte Software. Wenn man das dann noch digitalisieren kann, weil die Schnittstellen bekannt und die Anforderungen vorhersehbar sind, dann ist das eine Sache von einer Stunde.
Und dann würde man auch nicht über Kilowatt-Grenzen bei der Zertifizierung sprechen, sondern diese würde wahrscheinlich einfach durchlaufen?
Genau. Und dann wären wir auf der sicheren Seite. Wir haben zwar in Deutschland eine sehr hohe Versorgungssicherheit, verglichen mit anderen Ländern. Aber wir sehen schon jetzt, dass der Redispatch-Aufwand extrem gestiegen ist. Es ist eben nicht trivial, ein Netz mit zehntausenden kleinen dezentralen Anlagen statt mit drei Großkraftwerken zu steuern. Und es ist fraglich, ob wir uns mit dieser Erhöhung der Grenzen für die Zertifizierung nicht ein unnötig hohes Risiko einkaufen. Wir können die Auswirkungen aus meiner Sicht noch nicht hundertprozentig überblicken. Aber wir werden damit anfälliger, was völlig unnötig ist. Es würde sich viel mehr lohnen, die Themen an der Wurzel zu lösen, mit einer schnelleren, weil digitaleren Zertifizierung, und dann die Sicherheit zu haben, dass der Weg in die dezentrale Versorgung funktioniert, dass man auch ein Stromnetz mit 80 Prozent erneuerbarer Energien stabil ausregeln kann.
Das Interview führte Sven Ullrich