Trotz reformiertem Naturschutzgesetz kritisieren Sie, dass der Gesetzgeber sich um die Definition einer Signifikanzschwelle zur Bewertung von Rotmilan-Kollisionsrisiken an Windenergieanlagen drückt? Was meinen Sie damit?
Hartwig Schlüter: Wir müssen für die Antwort gedanklich zurück zum Bundesverwaltungsgerichtsurteil von 2008, das der Genehmigungsbehörde eine sogenannte naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zugestanden hat. Das Gericht handelte so aus der Not, weil Bundes- und Landesumweltministerien kein Monitoring zu den Todesursachen geschützter Tierarten durchgeführt hatten, die vom Risiko einer Kollision an Windturbinen betroffen sind. Dazu wären sie aber verpflichtet gewesen. Nach dem Urteil etablierte sich die Fata Morgana einer sogenannten Signifikanzschwelle: Ein signifikant erhöhtes Todesrisiko für Vögel und insbesondere den Rotmilan wurde die Bezugsgröße für viele Genehmigungsbehörden. Dies war aber ein Scheinmaßstab, weil es gar keine definierte Schwelle gab. Das Gericht hatte lediglich die Entscheidung von den Umweltministerien auf die Genehmigungsbehörden verlagert, die überfordert waren. Der Beschluss vom Bundesverfassungsgericht von 2018 forderte dann vom Gesetzgeber, den Normenanwendern für ihre Risikoentscheidung eine Hilfestellung zu geben. Das oberste Gericht stellte ein Erkenntnisvakuum bezüglich des Tötungsrisikos zum Beispiel durch Straßen oder neue Windparks fest, das zu füllen sei – ließ aber offen, ob es naturgegeben oder politisch selbstverschuldet existiert. Dies war schließlich der Auslöser für die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes im Sommer 2022. Der Gesetzgeber definierte aber keine Risikogrenzwerte dafür, wo der unzulässige Bereich an Eintrittswahrscheinlichkeiten für eine Kollision beginnt – sondern führte statt der Grenzwerte eine undefinierte „Signifikanzschwelle“ ein.
Man tut also so, als gäbe es keine Versicherungsmathematik, keine Ökologie und keine juristischen Auslegungsregeln, wie den Ermittlungsgrundsatz, das Bestimmtheitsgebot oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Weiterhin wurde und wird darauf verzichtet, den Einzelfall im Gesamtzusammenhang zu betrachten und einen Maßstab aus dem Gesamtzusammenhang heraus zu entwickeln.
Was wissen wir bereits über den Einfluss von Windparks auf die Rotmilan-Population?
Hartwig Schlüter: Wir wissen, dass das Nahrungsangebot in der Mastfußbrache rings um Windenergieanlagen sich für die Rotmilane erhöht, weil sie kleine Nager zum Beispiel dort besser erspähen können. Aus dem EU-Forschungsprojekt Life-Eurokite wissen wir zudem, dass die Sterblichkeit von Rotmilanen durch Kollisionen an Windenergieanlagen an fünfter Stelle der Todesursachen für diese Vögel liegt.
Lässt sich daraus aber schon ein Maßstab für ein Tötungsrisiko ableiten?
Hartwig Schlüter: Das im Rahmen des Eurokite-Projektes durchgeführte Monitoring zu den Todesursachen von Rotmilanen ermöglicht es, Eintrittswahrscheinlichkeiten für Rotmilankollisionen an Windenergieanlagen sehr gut abzuschätzen. Diese Eintrittswahrscheinlichkeiten können zum besseren Verständnis auch umgerechnet werden in die Anzahl der Jahre, die ein Rotmilan leben muss, um zum Beispiel an irgendeiner europäischen Windenergieanlage zu kollidieren. Außerdem geben die Untersuchungen aus dem Eurokite-Projekt Aufschluss darüber, wie sich das Kollisionsrisiko mit einer Zunahme des freien Luftraums unter dem Rotor verringert. Während der Brutzeit haben Rotmilane außerdem ein Revier das sie gegen andere Brutvögel erfolgreich verteidigen. Die männlichen Vögel schaffen deshalb während der Aufzuchtzeit die Nahrung in sehr begrenzten Gebieten mit Windparks heran, die sie kennen. Sie sind weniger gefährdet, als Vogelarten, die sich ohne Reviersicherung zwischen verschiedenen unbekannten Windparks bewegen müssen. Außerdem müssten wir Risikovergleiche einbeziehen: Welche Risiken haben andere Todesursachen? Und Nutzen-Risiko-Betrachtungen fürs Repowering: Wenn die neueren Anlagen viel mehr Strom produzieren als die alten, sind viel weniger Kollisionen pro Gigawattstunde Jahresertrag zu erwarten. Schließlich sind noch rechtliche Grundsätze zur unternehmerischen Freiheit der Projektierer abzuwägen. Es ist zu prüfen ob ein entwickelter Risiko-Bewertungsmaßstab dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt.
Im Zusammenhang mit dem Naturschutzgesetz hat die Regierung die Probabilistik als Maßstab eingeführt: Das kritisieren Sie?
Hartwig Schlüter: Bei der Betrachtung von Eintrittswahrscheinlichkeiten kommt man an der Probabilistik beziehungsweise der Versicherungsmathematik nicht vorbei. Das Bundesamt für Naturschutz hatte in der jüngsten Vergangenheit ein sogenanntes Probabilistik-Gutachten und ein sogenanntes Probabilistik-Folgegutachten beauftragt. Im Rahmen des zweiten Gutachtens entwickelten zwei Gutachterbüros aus Deutschland und Österreich eine Software zur Berechnung von einzelfallbezogenen Kollisionswahrscheinlichkeiten für Rotmilan-Brutvögel hinsichtlich geplanter Windenergieanlagen in Horstnähe. Methodisch setzt die Software am Ausweichverhalten von Rotmilanen gegenüber Windenergieanlagen an. Die Methode ist jedoch denkbar ungenau für eine Risikoermittlung, da schon eine geringe Abweichung im Ausweichverhalten zu einer erheblichen Veränderung des angegebenen Risikowertes führt. Für die erforderlichen Risiko-Risiko-Vergleiche und für Nutzen-Risiko-Betrachtungen bietet die Methode keine Anknüpfungspunkte. Auf diese Weise wird eine Risikobewertung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgehebelt. Ferner unterbleibt eine ökologische Risiko-Bewertung, wie sie vom Bundesverwaltungsgericht und vom Bundesverfassungsgericht gefordert wird.
Was fordern Sie?
Hartwig Schlüter: Die Bundesregierung sollte nicht erst nach drei Jahren durch eine Evaluation die Anwendung der Software überprüfen, sondern vielmehr heute schon das sogenannte Probabilistikfolgegutachten noch einmal überprüfen – insbesondere, weil die beiden Gutachterbüros durch ihre Software auch wirtschaftliche Interessen haben.
Wo stehen wir also heute? Und wie kann es weitergehen?
Hartwig Schlüter: Selbst nach dem Rotmilanbeschluss des Bundesverfassungsgerichts haben Normenanwender und Verwaltungsgerichte oder Gutachter immer noch nicht beachtet, dass sie im grundrechtsrelevanten Bereich arbeiten – weil auch Projektentwickler unternehmerische Rechte haben. An erster Stelle brauchen wir noch einen Bewertungsmaßstab, weil Entscheidungen ohne Maßstab maßlos und willkürlich bleiben. Es ist ein gravierender Täuschungsversuch, wenn die Bundesregierung und der Gesetzgeber so tun, als sei es ganz schwierig, einen Bewertungsmaßstab für Vogelkollisionen an Windenergieanlagen zu entwickeln. Das Gegenteil ist der Fall, es ist sehr trivial, wenn man das Thema interdisziplinär mathematisch-naturwissenschaftlich und rechtswissenschaftlich bearbeitet und bestehenden Widersprüchen nachgeht.
Zur Person:
Hartwig Schlüter ist promovierter Physiker. Er ist Inhaber der Firma Enerplan Projektentwicklung. Von ihm wurde die Verfassungsbeschwerde maßgeblich betrieben, die letztlich 2018 zum „Rotmilan-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts führten.