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Zwischen Höhenkoller und Hängetrauma

Nicole Weinhold

Weiche Knie? Wie damals als Kind auf dem Fünf-Meter-Turm im Schwimmbad? Von der damaligen Angst ist oben am Turm baumelnd kaum etwas übrig geblieben. Wahrscheinlich ein Gewöhnungseffekt wegen der gelegentlichen Besuche einer Windkraftgondel in den vergangenen 20 Jahren. Aber wenn ich schon relativ locker bleibe, nur weil ich zehnmal da oben war, wie fühlt es sich für den Servicemonteur an, der in einer Woche 20-mal in 100 oder 150 Metern auf einer Anlage arbeitet? Ja, genau. Den kratzt die Höhe nicht im Allergeringsten. Dummerweise kann dieser Zustand zu fahrlässigem Verhalten führen: Oben im Maschinenhaus etwas vergessen? Ich fahr schnell rauf. Unangeseilt … Jetzt, nachdem ich bei der Deutschen Windguard Offshore einen Kurs für das Arbeiten in der Höhe absolviert habe, verstehe ich, warum diese Schulungen einmal im Jahr aufgefrischt werden müssen. Zunächst erschien mir das übertrieben, fast wie ein Geschäftsmodell für Schulungsfirmen. Diese Auffassung revidiere ich jetzt ganz klar. Nur wer regelmäßig den Ausnahmezustand erprobt, hat eine Chance im Notfall.

Andre Schriever, mechanischer Supervisor bei Windstärke 8 in Oldenburg, war einer meiner Mitschüler in Elsfleth. Er beschrieb seine Erfahrung mit dem Thema so: „Am Anfang hast du Respekt, dann gewöhnst du dich, wirst unvorsichtig, dann erlebst du einen Unfall und nimmst das Thema ernst.“ Er musste erleben, dass ein Monteur unangeseilt 40 Meter in die Tiefe stürzte. Schriever kann nebenbei bemerkt als Symbol der Energiewende betrachtet werden: Er hatte zuvor im letzten deutschen Steinkohlebergbau in Ibbenbüren 1.000 Meter unter der Erde gearbeitet. Die ganze Familie war im Bergbau, sein Bruder wechselte zuerst in die Windbranche und überzeugte ihn, es auch zu tun. Zurück zum tödlichen Sturz. Der hatte insofern auch ein Nachspiel, als dass jeder Einzelne, der zum Zeitpunkt des Unfalls ebenfalls vor Ort gewesen ist, eine Geldstrafe zahlen musste: Das Gesetz sieht vor, dass man den unvorsichtigen Arbeiter daran hätte hindern müssen, unangeseilt aufzusteigen. Damit versucht der Gesetzgeber, ein stärkeres Verantwortungsbewusstsein füreinander auf der Baustelle zu schaffen.

Glücklicherweise sind tödliche Stürze die große Ausnahme. „Durch regelmäßige Schulungen ist das ein sehr sicherer Arbeitsplatz geworden“, sagt Alexander Treichel, Head of Safety Training bei der Deutschen Windguard Offshore in Elsfleth. Er verweist darauf, dass man normalerweise nur einen Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein macht: „Reicht das aus, um bei einem Unfall richtig zu handeln? Wie war das noch mit der Herzmassage, der stabilen Seitenlage?“ In dem Zusammenhang: In den USA absolvieren Schulkinder, die mit dem Bus fahren, jährlich Auffrischungskurse, wie man sich im Falle eines drohenden Unfalls zu verhalten hat. Nur dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass ein Zwölfjähriger das Lenkrad übernahm, als ein Busfahrer während der Fahrt einen Herzinfarkt erlitt. So konnte der Junge einen Unfall verhindern.

Rettung selbst aus dem Rotorblattinnern

Kurzum: Schulung ist das A und O. Und Sven Sula, unser Lehrmeister während des Kurses, hielt uns dabei gut auf Trab. Sula, seit 15 Jahren in der Windbranche, seit drei Jahren bei der Deutschen Windguard als Trainer, hat viele Unfälle und Gefahrensituationen erlebt. Wenn er Tipps und Empfehlungen gibt, dann prägt man sie sich ein. „Man muss jemanden vielleicht nicht nur von oben nach unten retten, sondern aus dem Blatt ziehen. Dafür muss man das Rettungsgerät beherrschen“, erklärte er während des theoretischen Unterrichts, um auf die vielfältigen Herausforderungen in der Windkraftanlage hinzuweisen. Später, hängend in einem Meter Höhe im Übungscontainer, kamen wir Schüler beim Umgang mit dem Rettungsgerät ziemlich ins Schwitzen: Der Helm ist im Weg, die Persönliche Schutzausrüstung erschwert die Bewegungen, der Karabiner will sich nicht öffnen. Im 16 Meter hohen Übungsturm geht es noch eine Spur realistischer zu. Wie rette ich jemanden, der ohnmächtig an der Leiter hängt? Aber auch das gelingt – unter Anleitung von Sven – nach langem Hin und Her endlich.

Apropos, unendlich viel Zeit haben die Retter bei einem Höhenunfall nicht. Zumindest nicht, solange das Hängetrauma droht: Wer länger als 20 Minuten in seinem Gurt hängt, kann einen Kreislaufzusammenbruch erleiden. Das Problem: Die Beinschlingen der Persönlichen Schutzausrüstung erzeugen in hängender Position so viel Druck auf die Oberschenkel, dass der Blutkreislauf unterbrochen wird. Wir lernen, wie wir eine Schlinge herstellen, befestigen und als Fußstütze nutzen, um den Druck aus den Beinschlingen des Haltegurtes zu nehmen.

Das Abseilen außen am Turm ist dann fast schon ein Vergnügungsausflug, auch hier bleibt der Höhenkoller aus. Der Blick auf die Flüsse Jade und Hunte direkt neben dem Trainingscenter entschädigt für den Aufstieg – der natürlich winzig ist im Vergleich zu dem, was Techniker und Ingenieure so klettern müssen, bevor ein Fahrstuhl in einer neuen Windturbine installiert ist.

Abgeschlossen wird die Schulung mit einem weltweit gültigen Zertifikat. International werden allerdings laut Alexander Treichel die Schulungsanforderungen gerade zurückgeschraubt. Zum Beispiel reiche für die Schulung ein Abseilen aus geringer Höhe aus. Ein wirkliches Gefühl für die emotionale Herausforderung der Höhe bekommt man so nicht. Der 16-Meter-Übungsturm der Deutschen Wind­guard gibt da schon eher einen Vorgeschmack auf die Realität, wobei eine Windkraftanlage heute auch mal auf 160 Meter Nabenhöhe kommt. Treichel nennt noch ein Beispiel für nach seiner Einschätzung unzureichende Schulungsanforderungen: Offshore-Rettungsübungen müssten nicht zwingend bei Wellengang absolviert werden. „Aber wann kommt man in Notsituationen? Leider selten bei idealen Bedingungen“, fügt er an.

Treichel verweist auf den demografischen Wandel in der Bevölkerung; entsprechend würden auch Mitarbeiter älter. Der Fachkräftemangel mache es erforderlich, dass auch ältere Kollegen auf die Turbinen gehen, um sie zu warten oder zu kontrollieren. Das könnte gesundheitliche Risiken erhöhen.

Derweil habe sich in den vergangenen zehn Jahren beim Thema Ergonomie viel getan. „Arbeits- und Rettungsgeräte befinden sich auf hohem Niveau. Ich komme aus dem Militär und war ganz baff, als ich die Rettungstechnik an den Turbinen gesehen habe. So ist zum Beispiel das Heben von Lasten kein Problem mehr“, sagt Treichel. „In dem Zusammenhang: Wir werden eine Dozentin für das Unterwasser-Hubschraubertraining bekommen.“

Unterm Strich kann man sagen, dass Deutschland gut aufgestellt ist beim Thema Safety an Windkraftanlagen. Das liegt aber auch daran, dass Trainingscenter wie die der Deutschen Windguard in Elsfleth und Norden besonders anspruchsvoll sind, was die Anforderungen im Schulungsprogramm anbelangt. Sollte es dann tatsächlich zu einer Notsituation kommen, hat man gute Chancen, sie meistern zu können.

... und gut unten gelandet – mit Persönlicher Schutzausrüstung und sicher angeseilt.

Foto: Deutsche WindGuard

... und gut unten gelandet – mit Persönlicher Schutzausrüstung und sicher angeseilt.
Eine oftmals für Laien verwirrende Vielzahl an Seilen, Gurten und Karabinerhaken gilt es, richtig einzusetzen, damit die Rettung gelingt.

Foto: Deutsche Windguard

Eine oftmals für Laien verwirrende Vielzahl an Seilen, Gurten und Karabinerhaken gilt es, richtig einzusetzen, damit die Rettung gelingt.
Lehrer Sven Sula hilft einem Schüler beim Aufbau einer Schlinge für die Füße zur Verhinderung des Hängetraumas und beim Einsatz des Rettungsgerätes.

Foto: Nicole Weinhold

Lehrer Sven Sula hilft einem Schüler beim Aufbau einer Schlinge für die Füße zur Verhinderung des Hängetraumas und beim Einsatz des Rettungsgerätes.

Schulungsangebot Deutsche Windguard

Die Windguard-Ausbildungen in Elsfleth für den Einsatz sowohl an Land als auch auf hoher See, für Arbeiten in der Höhe, Brandschutz, Notausstieg beim Helikopter-Absturz, Erste Hilfe und anderes sind zertifiziert von DNV GL Renewables Certification nach dem „Basic Safety Training Standard“ der Global Wind Organisation (GWO). In den Steigschutztrainings erlernen die Teilnehmer:in­nen die korrekte Anwendung und den sicheren Umgang mit der persönlichen Schutzausrüstung gegen Absturz (PSAgA). Neben der Vermittlung theoretischer Grundlagen liegt der Fokus auf dem praktischen Training der Teilnehmer:innen. Die Übungen erfolgen an unterschiedlichen Steigschutzsystemen sowie unter Einsatz verschiedener Rettungs- und Abseilgeräte. Qualifizierte und erfahrene Höhenretter bilden die Teilnehmer:innen aus und stellen den Bezug zur Praxis sicher. Vermittelt werden beispielsweise rechtliche Grundlagen, korrekte Handhabung, Trageweise und Nutzung der persönlichen Schutzausrüstung, das korrekte Verhalten in Gefahrensituationen bei Arbeiten in der Höhe, Methoden, verletzte Personen aus der Steigleiter zu retten, Evakuierungsmaßnahmen aus einer Windenergieanlage, Erstmaßnahmen bei längerem Hängen im Auffanggurt.

Das Advanced Rescue Training vermittelt Teilnehmer:innen speziell für die Rettung verletzter Personen aus einer Windenergieanlage Kenntnisse über standardisierte Rettungsausrüstung, -methoden und -techniken, die über die Inhalte des Working-at-Heights-Trainings hinausgehen. In zwei Kursmodulen werden die Teilnehmer:innen in die Lage versetzt, eine Rettung aus Nabe, Rotor, Blattinnerem, aus Gondel, Turm und Keller durchzuführen. Zwei weitere Module befassen sich mit den speziellen Anforderungen an Einzelretter und entsprechenden fortgeschrittenen Rettungsmaßnahmen.

Wer hilft?

Kommt es zu einem Unfall in der Windkraftanlage, gilt es, einige Regeln zu beachten. Regel Nummer eins: ansprechen. Das heißt herausfinden, ob Kollegen bewusstlos sind. Reagieren sie nicht, muss ein Notruf abgesetzt werden. Onshore wird die Feuerwehr über 112 kontaktiert. Offshore per Tetrafunk. Die Feuerwehr muss darüber informiert werden, wenn es sich um eine Höhenrettung handelt. Aber wie findet die Feuerwehr zur Windkraftanlage? Betreiber haben die Pflicht, die örtliche Feuerwehr über die Erreichbarkeit von Windkraftanlagen zu informieren. Für die erfolgreiche Rettung muss allerdings gewährleistet sein, dass tatsächlich dieser Trupp dann auch anrückt und nicht ein Team aus einem anderen Landkreis. Eine noch größere Herausforderung als die Anreise ist für die Feuerwehr dann wohl das Retten von Verletzten aus einer Windkraftanlage. Die Teams verfügen selten über viel Erfahrung bei diesem Thema, noch über das beste Equipment oder eine Leiter, die hoch genug ist. Darauf müsste künftig ein stärkeres Augenmerk gerichtet werden.

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