Es gibt viele Märchen, in denen Schlafende geweckt werden müssen: Dornröschen erwacht durch einen Kuss nach hundertjährigem, Schneewittchen durch einen unbequemen Transport aus sogar todesähnlichem Schlaf. Wie man aber einen schlafenden Riesen weckt, ist eher selten Thema. Doch das kann eigentlich nicht der Grund dafür sein, warum die Erneuerbaren-Branche seit 20 Jahren davon spricht, den schlafenden Riesen erneuerbare Wärme wachküssen zu müssen – und es bislang nicht gelungen ist.
Dabei wäre es höchste Zeit. Der Bedarf an Wärme und Kälte macht nach Angaben des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE) 52,1 Prozent des Endenergieverbrauchs in Deutschland aus. Und während bei der Stromerzeugung bereits ein Erneuerbaren-Anteil von mehr als 45 Prozent realisiert werden konnte, dümpelt der Anteil bei der Wärmeversorgung bei 15 Prozent. Wegen des hohen Anteils an fossilen Brennstoffen in der Wärmeversorgung werden jährlich Emissionen in Höhe von mehr als 300 Millionen Tonnen freigesetzt, so der BEE. „2020 verfehlte der Wärmesektor als einziger die Klimaziele. Und auch für 2021 sieht es schlecht aus“, kritisiert BEE-Präsidentin Simone Peter zum Auftakt der BEE-„Woche der Wärme“ im November.
Der Wärmebedarf indes ist gewaltig: 772 Terawattstunden (TWh) Wärme benötigen die Deutschen jedes Jahr. Durch Effizienzsteigerungen solle der Verbrauch auf 550 TWh sinken, erläutert Inga Moeck, Professorin für Angewandte Geothermik und Geohydraulik an der Georg-August Universität Göttingen. Und ihre gute Nachricht lautet: Bereits heute böten die verschiedenen erneuerbaren Wärmequellen zusammen ein Potenzial von 695 TWh und seien somit fast in der Lage, den aktuellen Wärmebedarf zu decken. Wärmepumpen, Holzheizungen mit Pellets und Hackschnitzeln sowie Anlagen für die Biogas-, Solar- und Geothermienutzung stünden bereit, um fossile Energieträger vollständig zu ersetzen.
München will Klimaneutralität 2035
Doch was sich auf dem Papier leicht ausrechnet, ist in der Praxis nicht einfach umzusetzen. „Die Wärmewende ist ein Riesenprojekt“, sagt Helge-Uve Braun, Technischer Geschäftsführer der Stadtwerke München (SWM). Die Stadt München hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: 2035 will sie klimaneutral werden, die Wärmeversorgung inbegriffen. Ein entsprechend großer Baustein ist daher die Wärmewende. Rund 11.000 Gigawattstunden (GWh) beträgt der jährliche Wärmebedarf der bayerischen Hauptstadt, ermittelte die im Auftrag der SWM erstellte Studie „Klimaneutrale Wärme München 2035“. Rund ein Drittel des Bedarfs wird durch Fernwärme gedeckt. Der Rest heizt dezentral, die meisten mit Öl oder Gas.
„Wir arbeiten schon seit 2012 daran, München klimaneutral mit Wärme zu versorgen“, so Braun. „Allerdings war unser ursprüngliches Ziel, dass wir bis 2040 die Fernwärme CO2-neutral, überwiegend aus Geothermie, erzeugen.“ Nun soll die komplette Wärmeversorgung möglichst fünf Jahre früher klimaneutral erfolgen.
München hat dabei den großen Vorteil, dass es geologisch gesehen günstig liegt: Die SWM betreiben aktuell sechs Geothermieanlagen. Das Molassebecken biete der Landeshauptstadt ein ausreichendes Potenzial, um die thermische Grundlast zu decken, sagt Braun. Das derzeitige geothermische Potenzial für München liege bei rund 200 MW, eine Verdoppelung auf 400 MW wollen die SWM bis 2035 erreichen. „Für die Spitzenlast benötigen wir aber Gaskraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung, die zunächst mit Erdgas und später mit Wasserstoff betrieben werden müssen.“ Ob das bereits 2035 gelinge, sei von den Rahmenbedingungen und der Wirtschaftlichkeit abhängig, räumt der Technische Geschäftsführer ein.
Fernwärmenetz ausbauen und verdichten
Die Herausforderung besteht nun darin, das bestehende 900 Kilometer lange Fernwärmenetz auszubauen und zu verdichten, um mehr Verbraucher anzuschließen. „Wir wollen bis 2035 auf einen Fernwärme-Anteil von 50 bis 70 Prozent kommen“, so Braun. Perspektivisch sollen 70 Prozent das Ziel sein. Außerdem müssen die 30 Prozent überzeugt werden, die in der dezentralen Versorgung bleiben und deshalb in Eigenregie auf klimaneutrale Wärme umsteigen sollen. „Da ist die Politik gefordert“, sagt Braun. Nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit Geld. Die SWM planen Investitionen von bis zu drei Milliarden Euro bis 2035, das gesamte Projekt klimaneutrale Wärme wird laut der Studie wohl mehr als fünf Milliarden Euro kosten. „Das wird ohne zusätzliche Fördermittel von Bund und Land nicht zu stemmen sein“, sagt Braun. Denn schließlich müssen nicht nur neue Leitungen und Kraftwerke gebaut werden, sondern auch tausende Eigenheimbesitzer und Vermieter ihre Wohnungen und Häuser energetisch sanieren, an die Fernwärme anschließen lassen oder Wärmepumpen installieren. „Das wird ein dickes Brett“, meint Braun.
Und auch ordnungspolitisch müsse einiges geschehen, fordert der SWM-Geschäftsführer, der auch Präsident des Bundesverbandes Geothermie ist. So sei die Fernwärme in der Wärmelieferungsverordnung systematisch benachteiligt, da Kosten für diese Investitionen vom Vermieter nicht auf die Mieter umgelegt werden können – anders als die Installation eines neuen Gaskessels. „So ist die Fernwärme nicht konkurrenzfähig.“
Weitere Hürden für die Umsetzung sieht er in der Dauer der Genehmigungsverfahren für Kraftwerks- und Leitungsbau. „2035 ist in der Energiebranche morgen, wir brauchen also schnelle Abläufe.“ Gleichzeitig sei eine Fachkräfte-Offensive nötig, da es von der Planung über die Genehmigung bis hin zum Bau an Arbeitskräften, Studierenden und Auszubildenden mangele.
Es braucht also deutlich mehr als einen Prinzen, holprige Wege oder ungeschickte Zwerge, um den schlafenden Riesen erneuerbare Wärme zu wecken. Bei Dornröschen war es nach 100 Jahre eine leichte Aufgabe – so viel Zeit lässt der Klimawandel der Wärmewende allerdings nicht. Und selbst im ambitionierten München ist nach Ansicht der Studie die Klimaneutralität auch bei erheblichen Anstrengungen bis 2035 nur rechnerisch zu erreichen: Die Stadt müsse Ausgleichszahlungen leisten oder anderweitig in erneuerbare Energien investieren.
Weitere Informationen:
www.swm.de
www.uni-goettingen.de