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Dichte Planetenlaufbahn

Tilman Weber

Zweihundertfünfzig Newtonmeter pro Kilogramm eingesetzten Getriebestahls werden Windräder bald leisten.Zumindest werden sie sich diesem Wert nähern. Naiv betrachtet mag die rasante Drehmomentverdichtung als ein Wunder anmuten. Zwischen Rotoren mit einem inzwischen gewaltig verlängerten Ausgriff und um viele Tonnen schwereren Blättern auf der einen Seite und immer leistungsstärkeren Generatoren auf der anderen bleibt die Zahnradkomponente zur Drehzahlübersetzung seit Jahren nahezu gleich groß. Auch ihr Gewicht bleibt stabil. Wer die Getriebe mit menschlichem Herz und Muskeln vergleicht, mag sich den Fortschritt so vorstellen, als würden wir dank moderner Medizin, Sport- oder Ernährungswissenschaft nun Gliedmaßen in Dinosaurierdimension bewegen und somit viel mehr leisten können.

Tatsächlich ist ein Getriebe kein Organ. Und der Trend zu immer größerer Drehmomentdichte ist kein Wunder, sondern Folge einer immer neuen, flexiblen Anpassung der Designs sowie die Einführung neuer Technologien in den Getriebestufen.

250 Newtonmeter pro Kilo Getriebestahl könnten Windturbinen demnächst verarbeiten. Die Getriebeentwickler nähern sich diesem Wert: So viel Drehmoment im Verhältnis zur eingesetzten Masse übernehmen die Komponenten dann beim Drehzahlübersetzen.

Allein seit 2018 erhöhten die Hersteller die Leistungsfähigkeit der Komponenten von 175 Newtonmeter pro Kilogramm Getriebemasse auf drei Jahre später 200 und dann immer rascher auf nun bald 240 und absehbar auch 250 Newtonmeter pro Kilo. Diesen Trend ermöglichten sie durch zwei Hauptkniffe: Sie erhöhten die Zahl der im äußeren Hohlrad abrollenden und um das mittige Sonnenritzel kreisenden Planetenzahnräder. Es lässt die Lasten weicher abrollen und mehr aufteilen. Und sie ersetzten Wälz- durch Gleitlager, um ohne Rollkörper den Raum für die Zahnräder zu haben.

Bei Getriebeindustrieunternehmen Flender hat Andreas Klein für diese Tendenz eine spannende Grafik zur Hand. Sie zeigt auf der Zeitleiste entlang einer in immer höhere Drehmomentdichten exponentiell ansteigenden Linkskurve an, wie sich das Verhältnis von Newtonmeter zu Kilogramm für die Komponenten eigener Herstellung seit 2012 mehr als verdoppelt hat. Klein ist der in der Flender-Wind­energiesparte als Vice President für Konzepte und Entwicklung zuständige Technikmanager. Binnen sieben Jahren habe Flender in seiner Windkraft-Getriebemarke Winergy eine Verdoppelung der Turbinennennleistung bei gleichbleibendem Bauraum der Getriebe ermöglicht, sagt er. Klein verweist auf die von Flender konservativ-zurückhaltend auf 220 Newtonmeter pro Kilogramm geschätzten neuen Neun-Megawatt-Getriebe.

Getriebedesign individuell pro Turbinentyp

Die Daten sind Mindestangaben, weil Getriebe bei Flender immer Spezialanfertigungen für jeden Windturbinentyp sind – angepasst an Anforderungen der Windenergieanlagenbauer. Grundsätzlich erhöhen auch die Entwickler um Andreas Klein gemäß Branchentrend stetig die Zahl der Planeten. Waren es zehn Jahre zuvor häufig nur vier Planeten in der ersten und drei in der zweiten Getriebestufe, kommt das jüngste Winergy-Getriebe auf acht Planeten in der ersten und sechs bis acht in der zweiten Stufe. In der dritten Planetenstufe, die Winergy-Getriebe in Anlagen ab sechs Megawatt (MW) eventuell erhalten, sind es bis zu vier Planeten.

Um Bauraum für mehr Ritzel zu gewinnen und um die Anfälligkeit der Wälzlager für Risse und zerstoßene Wälzkörper durch Überlastung und Ermüdung auszuhebeln, tauschte Flender diese in allen Übersetzungsstufen neuester Winergy-Getriebe durch Gleitlager aus: Hier gleiten Planetenrad und Planetenachse aus besonderem Metall ohne Kugeln, Zylinder- oder Kegelrollen ineinander.

Für neue Getriebe beachten wir Effekte, die eine einfache Skalierung übersieht, damit wir Designrisiken in Nebenkriegsschauplätzen vermeiden.“

Andreas Klein, Vice President Systems und Vice President Engineering Gears, Flender

„High Density X“ nennt das Unternehmen diese leistungsverdichteten Getriebe. Doch der Fortschritt auf der von Andreas Klein gezeigten Entwicklungslinie ist nicht langfristig vorgezeichnet. „Drehmomentdichte war jahrelang ein Kostenhebel für die preisgünstige Erhöhung der Nennleistungen. Nun nivelliert sich die Kostenlinie aus“, sagt Klein. Er zeigt eine zweite Kurve zu relativen Einsparungen bei den Getriebe-Herstellkosten. Sie sinkt ab 2025 kaum noch. Dennoch wird die weitere Leistungsverdichtung ein wichtiger Faktor bleiben: In Zukunft zwar nicht mehr als Kostenhebel, bleibt sie für den Transport aber entscheidend.

Die Planetenvermehrung hat aber auch Nebenwirkungen. Eine höhere Anzahl führt zu Ritzeln mit kleinerem Radius. Die kleineren Planetenzahnräder verhindern andererseits, dass die Ingenieure den Sonnenradius einer Getriebestufe so stark wie bisher verringern können, was die Übersetzung begrenzt. Dadurch wird gegebenenfalls eine weitere Planetenstufe erforderlich, um die vom Windenergieanlagenhersteller geforderte Gesamtübersetzung erreichen zu können.

Und das Zusammenspiel von immer mehr rotierenden Gliedmaßen ist eine Kunst, die sich wohl mit einer Jonglage bei Hinzunahme immer neuer Wurfbälle vergleichen lässt: Während da Bälle und Hände auf enger werdendem Raum sich nicht in die Quere kommen dürfen, rücken hier die Ritzel mitsamt Planetbolzen und Lagern im enger bestückten Bauraum zusammen – dürfen sich aber weder durch Schwingungen noch fehlgeleitete Kraftübertragungen beeinflussen. Flender wähle die Anzahl der Planeten so, erklärt Getriebeexperte Klein sinngemäß, dass der beste Kompromiss zwischen guten Proportionen der Bauteile zueinander und von Eigenfrequenzen oder Schwingungsanfälligkeiten im Triebstrang entsteht. „Für neue Getriebe bevorzugen wir ähnliche Designs, sodass wir Designrisiken in Nebenschauplätzen vermeiden. Dabei skalieren wir wo möglich, achten aber sehr bewusst auf Effekte die eine einfache Skalierung übersehen würde.“, sagt Klein.

8 Planetenzahnräder lassen Designer von Getrieben für Windenergieanlagen bei großen Turbinennennleistungen in der ersten Getriebe-Übersetzungsstufe ums mittige Sonnenritzel kreisen. Frühere Planetengetriebestufen setzten auf Designs mit noch drei Planetenzahnrädern. Wenn mehr Planeten kreisen, verbessert das die Lastverteilung im Getriebe.

Maß halten dient auch Transportfähigkeit

Das der zentralen Triebstrangkomponente branchenweit verordnete Maßhalten gegen Größen- und Gewichtszunahme dient zwei Zielen: Es senkt die Stromgestehungskosten pro erzeugte Kilowattstunde. Außerdem entscheidet es über die Transportfähigkeit auf den Straßen: Würden die Getriebe breiter, wären dafür teurere und seltener verfügbare Spezial-Lkw mit Sondertransport-Genehmigungen erforderlich.

Seit weit mehr als zehn Jahren bietet Flender auch ein ganz eigenes Getriebe-Generator-Hybriddesign an: Die als Hybriddrive vertriebene Architektur flanscht ein Getriebe mit zwei, bei größeren Getrieben nun drei Planetenstufen direkt an den Generator. Die schnelle Ausgangswelle zum Generator entfällt. Zudem sparen sich die Getriebebauer ein Wälzlager, weil zweite Getriebestufe und drehender Generatorteil zusammen nur ein Lager benötigen. Der nur mittelschnell rotierende Generator ist im Durchmesser größer, aber kürzer als ein Schnellläufer gleicher Leistung. Denn der Generator braucht einen umfangreicheren Luftspalt für die Leistung und mehr Polpaare für die Frequenz.

Doch auch die immer längeren Rotorblätter fordern ihren Beitrag von den Getriebeentwicklern. Um die Blattspitzengeschwindigkeit trotz weiterem Ausgriff der Windturbinenflügel zu begrenzen und damit nicht zuletzt Blattgeräusche einzudämmen, lassen die Turbinenbauer den Rotor langsamer drehen. Getriebebauer erhöhen deshalb die Übersetzungen – wozu die dritte Planetenstufe bei höheren Nennleistungen dient – oder sie lassen ein höheres Eingangsdrehmoment sowie ein höheres Generatordrehmoment zu.

Wechsel zum Hybridgetriebe bei Vestas

Um dem Entwicklungsdruck auf den begrenzten Bauraum der Getriebe auszuweichen, hat der Weltmarktführer unter den Windturbinenherstellern außerhalb Chinas, Vestas, schon 2016 und 2021 den Ausweg hin zu einem Hybriddrive-ähnlichen Konzept genommen: Beide Jahre markieren zuerst für Offshore-Turbinen, dann für Turbinen an Land die Premieren dieser Hybrid-Triebstränge in kommerziellen Windparks. Bei Anlagen hoher Nennleistung und sehr großen Rotoren setzt Vestas seither auf zweistufige Planetengetriebe ohne dritte Stirnradstufe – wie sich die schnelle Ausgangswelle nennt –, mit Hybridverbindung zum Generator und mittlerer Drehzahl. Die Zulieferer sind Flender und Hauptwettbewerbskonzern ZF.

Hybridgetriebe lassen sich mit Variationen von mehr Planeten pro Getriebestufe kombinieren. Bei gleichem Aufbau der Planetenstufen erreichten sie jeweils nochmals 20 bis 30 Newtonmeter Drehmoment mehr pro Kilogramm als konventionelle Getriebe, sagt Flender-Mann Klein. Weil ohne äußerliches Größenwachstum aber dennoch eine Belastungsobergrenze nicht mehr auszuschließen ist, prüfen Unternehmen bereits alternative Konzepte. Flender etwa denkt noch unverbindlich über mittelschnelllaufende Antriebe mit Supraleiterwicklungs-Generatoren und Ölkühlungen nach.

Drehmomentdichte war jahrelang ein Kostenhebel für die preisgünstige Erhöhung der Nennleistungen.

Andreas Klein, Vice President Systems und Vice President Engineering Gears, Flender

Herstellerunabhängige wissenschaftliche Forschung zu Getrieben findet vor allem am Wind­energiegetriebezentrum CWD der RWTH in Aachen statt. Ralf Schelenz ist der Leiter des Instituts für Maschinenelemente und Systementwicklung, zu dem das Center for Wind Power Drives (CWD) gehört. Er könne für Forschung an klassischen Windenergiegetrieben keinen Entwicklungsabschluss absehen, sagt Schelenz zu ERNEUERBARE ENERGIEN. Es gebe „mindestens zehn Forschungsprojekte mit deutlichem Bezug zu Windenergiegetrieben“, die zu „laufenden, gerade abgeschlossenen und zum Sommer 2024 beginnenden“ Projekten des CWD gehören.

Tatsächlich listet das Institut sieben eigene aktuelle Forschungen mit mehr oder weniger erkennbarem Triebstrangbezug öffentlich auf, die indirekt Drehmomentverdichtungen oder Getriebemaße betreffen könnten: Robustheitstests der in den neuen Hochleistungsgetrieben zunehmenden Gleitlager, Gleitlager-Verschleißprognosen, ein verbessertes Konzept für Gleithauptlager, Prüfstandtests zur Widerstandskraft von Triebsträngen gegen Windlasten, weniger Ölwechsel, besserer Stahl für die Rotorwellen. Hinzu kommt ein Prüfverfahren für eine beim CWD entwickelte Anlage, die mit besonders großen Rotorblättern und einer Nennleistung unter dem Niveau der aktuellen Großanlagengeneration besonders gleichmäßig Strom erzeugen soll. Und in einem 2023 veröffentlichten Wissenschaftsartikel analysieren Schelenz und andere Getriebeforscher, wie Kupplungen die Tonausbreitung in Hybrid­triebsträngen dämpfen können.

Die Hersteller von Getrieben ersetzten Wälz- durch Gleitlager, um ohne Rollkörper den Raum für mehr Zahnräder pro Übersetzungsstufe zu gewinnen.

Ist die weitere Entwicklung der drehmomentverdichteten Getriebe also nur noch eine Aufgabe fürs Feindesign bei den Getriebebauern? Bleiben der wissenschaftlichen Forschung nun nur begleitende Recherchen dazu vorbehalten, wie sich Kosten oder Geräuschentwicklung ausgleichen lassen?

Fakt ist: Der Umgang mit dem Kostendruck bestimmt die Technik der Getriebebauunternehmen.

NGC: Vollintegrierte Getriebe ab 15 MW

Der chinesische Getriebebauer NGC lotet die Balance zwischen wettbewerbsfähigen niedrigen Verkaufspreisen und technologischem Bedarf an Hochleistungsleichtbau auf ganz eigene Weise aus: Hohe Drehmomentdichten designen die Asiaten für sehr hohe Nennleistungen. Das erste NGC-Getriebe für Turbinen ab 16 MW erreicht 210 Newtonmeter pro Kilogramm. Und es bringt 105 Tonnen auf die Waage, was im Vergleich zu einem jüngst von Flender in Aussicht gestellten bis 10 MW leistenden 37-Tonnen-Modell nicht leichtgewichtig ist. Mit zwei neuen Getriebemodellen – eines für eine 10-MW-Turbine an einem Wüstenstandort und eines für 20-MW-Turbinen im Meer – zielt NGC nun auf 230 bis 240 Newtonmeter pro Kilogramm. Während das 10-MW-Modell eine teilintegrierte Triebstrangarchitektur mit an die erste Getriebestufe kompakt angeflanschter Hauptwelle vorsehe, sei das vollintegrierte 20-MW-Modell ein Getriebe-Generator-Hybrid, teilt das Unternehmen auf Anfrage mit. Künftig würden Hybridgetriebe in 15-MW-Turbinen zum Standard. Im Bereich 8,5 bis 15 MW kämen dreistufige Planetengetriebe mit zusätzlicher Stirnradstufe zum Einsatz.

Gleitlager setzt NGC je nach Kundenwunsch üblicherweise ab 18 MW ein. Lastenverteilung mit acht Planeten in der ersten Getriebestufe wenden die Asiaten ab 10 MW Nennleistung an. Ab 20 MW sollen zehn Planeten in der ersten Stufe kreisen.

ZF: Weitreichend modulare Bauweise

Mit einer noch einmal anderen Entwicklungsstrategie reagiert der in Belgien produzierende Getriebebauer ZF auf Kosten- und Bauraumanforderungen der Windenergiegetriebe. So nutzt ZF vier Getriebebauplattformen, deren weitreichend modulare Bauweise teils sehr große Leistungsreichweiten ermöglicht. Während die Plattformen 3K und 4K von knapp 3 MW bis mehr als 4 MW sowie von rund 3,5 MW bis 5,5 MW reichen, lassen 6K und 7K bis zu 4 MW an Spreizung der Nennleistungen zu. Die Drehmomentdichten für aufgelöste Triebstränge visiert ZF mit bis zu 200 Newtonmeter pro Kilogramm an – für integrierte Triebstränge auch darüber. Die maximalen Nennleistungen von 8,6 und 9,2 MW erzielt ZF allerdings durch einen schnelleren Rotor. Das Eingangsdrehmoment beim 7K-Modell etwa ist auf 8.000 Kilonewtonmeter begrenzt – was ohne Drehzahlanhebung bis 8 MW reicht.

Auch ZF nutzt Gleitlager und erhöhte bei dreistufigen Planetengetrieben mit schneller Getriebeausgangswelle die Planetenzahl der Eingangsstufe auf fünf bis acht „oder sogar mehr“.

Ein Clou der ZF-Bauplattformen dürfte die absolut strikte Begrenzung der äußeren Abmaße sein: Innerhalb einer Plattform ändern sich nicht nur Breite und Höhe, sondern auch die Länge der Getriebe nicht. Alle 4K- und 6K-Modelle haben sogar plattformübergreifend ein gemeinsames Volume of Control, wie ZF die äußere Bauform nennt.

Vielleicht wird auch die Marktbereinigung im Getriebebau auf die Technik noch Einfluss haben. 2015 hatte ZF die Windrad-Getriebesparte von Bosch-Rexroth eingekauft. Flender übernahm 2022 Moventas aus Finnland. Wettbewerber Eickhoff stoppte die Serienproduktion 2023. Bedeutsam könnte etwa werden, dass auch Moventas modulare drehmomentverdichtete Getriebe entwickelte. Die Exceed-Bauserie der Finnen hat Flender eingestellt. Doch arbeiten ehemalige Moventas-Entwickler gemeinsam mit Männern und Frauen der Winergy-Entwicklung an den neuen Produkten. Welche Innovationen sich ergeben, bleibt abzuwarten.

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