Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Bohrloch-Repowering

Tilman Weber

Uwe Balasus-Lange war bis Ende März 2021 ein Mann der Öl- und Gasförderung. Keine zwei Jahre später ist der 56 Jahre alte Tiefbohringenieur bei Interessenvertretern der Erneuerbare-Energien-Branche ein gefragter Experte. Nach Übernachtung und Frühstück im Hotel Luisenhof unweit vom Hauptbahnhof Hannover wird er an diesem Dezembervormittag gleich im nah gelegenen Büro des Landesverbandes Erneuerbare Energien Niedersachsen/Bremen über die Nutzungschancen für Geothermie in Niedersachsen informieren. Balasus-Lange war Manager der Wintershall Dea, als er aus der Öl- und Gasbranche ausstieg und im Juni 2021 Gesellschafter der gerade gegründeten Norddeutsche Erdwärme Gewinnungsgesellschaft (NDEWG) wurde. Angesichts wachsenden Bedarfs an klimaneutraler Wärmeenergie hat sich die NDEWG rasch mehrere regionale Geothermie-Erkundungsflächen gesichert. Und um schnell liefern zu können, will das Unternehmen die natürliche Wärme auch aus den schon vorhandenen tiefen Förderlöchern in den zahlreichen aufgegebenen Öl- und Gasfeldern Niedersachsens ziehen.

Bisher ist das Geschäftsfeld eine absolute Nische. Doch die Plattform zum Erfahrungs- und Informationsaustausch, Geothermieforum Niedersachsen, hat die Bundesregierung auf das Thema aufmerksam gemacht. Seit fast 18 Jahren organisieren das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie (LBEG) sowie der Verband der Erdgas- und Erdölförderwirtschaft BVEG und das niedersächsische Wirtschaftsministerium darin einen Wissenstransfer von der alten zur nachhaltigen neuen Energieförderbranche. Zentrales Ziel aber ist eben die Nachnutzung der Bohrlöcher. Sie würde für das Anzapfen der erneuerbaren und kohlendioxidfreien klimaneutralen Tiefenwärme die Erkundungs- und Bohrkosten senken. Und die Rohstoffförderfirmen müssten die Löcher nicht für teures Geld wieder schließen. Doch ohne besondere gesetzliche Garantien und öffentliche Förderung kam es zu den Deals bisher nicht.

Nun prüft die Bundesregierung, wie sie die geothermische Nachnutzung durch eine Reform im Bergrecht anreizen kann. Eine weitere Überlegung im Bundeswirtschaftsministerium lautet: Die für Genehmigungen zuständigen Bundesländer könnten den Bohrlochbetreibern vorgeben, dass sie Stilllegungen mit viel zeitlichem Vorlauf anmelden und mit guten geologischen Daten ausstatten müssen.

Mit mehr als 10.000 Bohrungen von mehr als 400 Meter Tiefe ist das Bundesland uneinholbar deutsches Förderland Nummer eins für Erdöl und vor allem Erdgas. Jährlich verfüllen die ausbeutenden Unternehmen allein in Niedersachsen aber auch 28 nicht mehr genutzte Bohröffnungen, weil sich keine Nachnutzer finden. Denn nicht alle Löcher sind geeignet, weil die Bodenschichten in den entscheidenden Tiefen von 2.000 bis 4.000 oder gar 5.000 Meter nicht porös sind und das heiße Thermalwasser nicht ausreichend durchsickert,oder weil die Standorte zu weit entfernt für eine Fernwärmeeinspeisung sind. Oder weil schlicht zu wenig geologische Daten erhoben sind. Mitunter müssen sich die Partner auch über Haftungsfragen etwa für Altlasten im Bohrloch einigen oder über Erdbebenrisiken bei Schäden in tieferen Gesteinsschichten nach dem Herausholen von Öl und Gas.

Doch nachgeschärfte lokale Klimaschutzkonzepte, der wachsende Wunsch nach Resilienz – nach Unabhängigkeit der Energieversorgung von Krisen wie dem Ukrainekrieg und der seither rückläufigen Verfügbarkeit und Teuerung fossiler Energierohstoffe – und die bisherigen Misserfolge der Energiewende in der Wärmeversorgung lassen die schnelle Nachnutzungen wieder spannend werden. „Sehr viel Interesse bei Kommunen und Industrieunternehmen“ nimmt Balasus-Lange wahr.

10.000 Bohrlöcher mit mehr als 400 Meter Tiefe gibt es in Niedersachsen, dem führenden Öl- und Gasförder-Bundesland. Viele sind lange aufgegeben und verfüllt, einige ließen sich noch für Geothermie nachnutzen.

Schnelles koaxiales Rohr-in-Rohr-System

Seien gute geologische Daten des Bergbauunternehmens vorhanden, werde die NDEWG ein geschlossenes, sogenanntes koaxiales Rohr-in-Rohr-System einsetzen. Das ermöglicht es, auf die sonst für Geothermiekraftwerke gerne genutzte Dublette zu verzichten: eine zweite parallele Bohrung mit Kosten von bis zu 20 Millionen Euro, um über eine Seite des Bohrlochduos kaltes Wasser einfließen und auf der anderen Seite hoch erhitztes Wasser aufsteigen zu lassen. Das geschlossene System hingegen nimmt in die Tiefe fallendes Wasser im äußeren Rohr auf, das sich durch die natürliche Erdwärme erhitzt und im entstehenden Kreislauf durch das innere Rohr aufsteigt. „Wir entnehmen dem Boden dabei nichts außer Wärme und verändern deshalb auch nichts an seiner Struktur oder gar Stabilität!“ Das Argument könnte Anwohnern die Angst vor Veränderungen in tiefen Gesteinsschichten nehmen. Allerdings verringert das gesschlossene System auch deutlich die Leistung der Geothermieanlage.

Zum Leuchtturmprojekt an einem der vier Bohrlöcher, die LBEG aktuell als geeignet für eine Geothermie-Zweitverwertung einstuft, wird womöglich ein eigens von den Stadtwerken Munster-Bispingen projektiertes Vorhaben werden. Gemäß den bekannt gegebenen Plänen steht eine letzte Testbohrung des US-Erdölkonzerns Exxon Mobil an dem ausgebeuteten Standort am Südrand der Bundeswehr-Garnisonsstadt unmittelbar bevor. Das Gesetz verpflichtet dazu vor der Verfüllung des Bohrlochs. Diesen Test will Stadtwerke-Chef Jan Niemann offenbar abwarten, weil er aktuelle Daten liefert, die auch für das Geothermieprojekt wichtig sind. Danach wollen die Munsteraner Versorger zügig über das Investment entscheiden. Ab 2026 könnten sie die heiße Quelle mit 147 Grad Celsius aus 5.000 Metern Tiefe mit hohem Durchlaufvolumen und damit hoher Leistung ausbeuten, so besagt es die fortgeschrittene Planung der stadtwerkeeigenen Heide Geo GmbH.

Die Munsteraner wollen ein Erdwärmenetz für einige Straßen mit größeren Siedlungshäusern aufbauen. Private Investoren springen auf. Wenn alles gelingt, liefern sie 20 Millionen, 10 Millionen bringt das Stadtwerk auf, mit weiteren 10 Millionen sollen sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen. 6,9 Millionen Euro hat das Land Niedersachsen den Stadtwerken als Anschubfinanzierung bewilligt.

Weniger klar ist die Situation 100 Kilometer westlich am Exxon-Mobil-Bohrloch Poggenpohl, auf das die NDEWG wartet. Hier hatte Exxon Mobil bis 2012 einen unterirdischen Erdgasspeicher betrieben. In den bis auf 2.600 Meter Tiefe hinabreichenden Bohrungen will Balasus-Langes NDEWG mit dem koaxialen System das Wasser erwärmen und dafür örtliche Abnehmer finden. Um genug Temperatur zu erreichen, müssen zusätzlich Wärmepumpen zum Einsatz kommen. Doch jüngst hatte Exxon Mobil den Übergabeprozess noch einmal angehalten. Über die Gründe will Balasus-Lange nicht spekulieren. Dank einer Erlaubnis zum Aufsuchen von Erdwärme darf NDEWG bis 2025 im Erlaubnisfeld Poggenpohl vorhandene Daten einsammeln, vielleicht seismische Messungen veranstalten, mit möglichen Energieabnehmern verhandeln.

Vorerst setzt NDEWG auf die vier weiteren ihr zugewiesenen Erlaubnisfelder in Niedersachsen, auf denen nur Neuerschließungen möglich sein werden. Noch im Januar kam grünes Licht für das Feld Nordhorn an der niederländischen Grenze.

Messkabel für seismische Messung

Foto: Bundesverband Geothermie

Messkabel für seismische Messung

Erlaubnisfeld Nordhorn

Dass Nordhorn ein Treffer sein kann, lässt der Bürgermeister im kleinen Sitzungssaal des repräsentativen Rathauses schnell erkennen. Den modernen Nachkriegsbau mit Neo-Renaissance-Giebel fährt Thomas Berling seit seiner ersten Wahl 2011 meist mit dem Fahrrad an. Das Klimaschutzkonzept für die Stadt ließ er 2013 als Grundlage schreiben. Das Geld für die Entwicklung eines neuen Leitbildes zu einem sechsstelligen Europreis spare die Stadt aber, sagt Berling. Wichtiger ist ihm praktische Umsetzung: Seit vielen Jahren gibt es Umweltbeauftragte im Amt für Stadtentwicklung, die Umsetzung von Klimaschutzprojekten ließen sie in Nordhorn jeweils durch die Einstellung einer Klimaschutzmanagerin sicherstellen. Kürzlich stellte Nordhorn eine Koordinatorin für Nachhaltigkeitsthemen ein.

Die Erfolge können sich sehen lassen: An Weihnachten 2022 eröffnete Nordhorn den frisch umgebauten Bahnhof, weil die in den 1970er-Jahren stillgelegte 30-Kilometer-Zugstrecke Bad-Bent­heim-Neuendorf wieder in Betrieb ging. Die Bad Bentheimer Eisenbahn mit Sitz in Nordhorn soll die Strecke bis Mitte des Jahrzehnts noch um 20 Kilometer bis Coevorden verlängern – die niederländische Partnerstadt Nordhorns.

Berling schreibt Politik und Verwaltung in seiner Ägide zugute, den Strukturwandel von einer früheren Textilarbeiterstadt mit vielen Arbeitslosen nach der Schließung der Textilfabriken zu einem Standort mittelständischer Unternehmen geschafft zu haben. Mit dem Abbau der Schulden von 60 auf aktuell 12,5 Millionen Euro gewann die Stadtführung ihre Handlungsspielräume zurück, heimste nach dem Bau von Radwegen 2021 die Auszeichnung des Radfahrerclubs ADFC als Ort mit dem besten Fahrradklima aller mittelgroßen Städte ein, bewirkte Dachbegrünungen, energetische Sanierungen und über das Stadtwerk NVB die Verbreitung von Solaranlagen auf Dächern und die Installation von Elektrotanksäulen.

Erdwärme fürs neue Stadtzentrum

Zumindest oberflächennahe Erdwärme mit Sonden in Tiefen von 100 bis 400 Meter, vielleicht aber auch mitteltiefe Erdwärme will Berling mit dem Stadtwerk in der Umgebung um den Bahnhof nutzen lassen. Das Areal nennt Berling „Stadtumbaugebiet“. Die Stadt hat dort ein altes Postgebäude an einen Investor vermittelt, hat in dem Gebiet Zugriff auf weitere ältere öffentliche Gebäude, ein Investor plant den Bau eines riesigen Hotels. Für den hohen Wärmebedarf dieser Immobilien werden die Nordhorner Versorgungsbetriebe mit anderen Investoren ein Nahwärmenetz für die Erdwärme in diesem Areal aufbauen. Nordhorn könnte es später ausbauen, um die Erdwärme der NDEWG in weitere Viertel der Stadt zu bringen, deutet Berling an.

Das könnte bis 2030 dauern oder länger. Balasus-Lange will sich darauf nicht festlegen. Die hier früher zahlreichen Erdgas- oder Erdöl-Förderlöcher sind längst verfüllt. Die NDEWG wird eine Dublette mit zwei neuen Bohrungen anlegen müssen. Sie will nun die Geologie des Untergrundes analysieren. So lassen sich die Daten der alten Bohrstandorte zur Prüfung der Machbarkeit des Nordhorn-Erlaubnisfeldes noch nutzen.

Nachnutzen

Wie_viele ausgeförderte Erdgas- und Erdöl-Bohrlöcher für die Nachnutzung durch Geothermie sich eignen, ist nicht bekannt. Nicht alle Förderfirmen geben das Ende der Ausbeutung mit genug Daten an. Niedersachsens Bergbauamt benennt jährlich ihm bekannte für Nachnutzung geeignete neu aufgegebene Bohrlöcher.

147 Grad_Celsius verspricht die Nachnutzung des Förderlochs, das die Stadtwerke Munster-­Bispingen ab 2026 als Geothermieanlage betreiben könnten.

„Wir entnehmen dem Boden nichts außer Wärme und verändern deshalb auch nichts an seiner Stabilität.“

Uwe Balasus-Lange, Geschäftsführer, NDEWG, zum geschlossenen Wärmekreislauf der Nachnutzung

Tags