Massenabfertigung für Erneuerbare-Energien-Anlagen im Stromhandel, maßgefertigt – geht das? Während der Ausbau von Photovoltaik (PV) und Windkraft ein in Deutschland ganz neues Tempo einnimmt, machen Grünstrom-Direktvermarkter mit neuen Instrumenten die flexiblere Nutzung des Stroms und den zunehmend marktgerechten Vertrieb möglich. Was sich paradox liest, ist der Job: zugleich eine Flut neuer Verträge abzuschließen – und doch jeden Vertragspartner frei entscheiden zu lassen, wie viel vom selbst erzeugten Strom er verbraucht oder wie viel der Kunde an ausgesuchte Vertragspartner direkt liefern will.
Natürlich hilft Digitalisierung. Das Düsseldorfer Stromhandelshaus Quadra Energy beispielsweise bringt aktuell eine digitale Plattform auf den Markt, an der stromerzeugende Kunden einen zugeschnittenen Direktvermarktervertrag für neue PV-Anlagen ab 100 Kilowatt Nennleistung (kW) abschließen können (siehe Interview rechts). Das Tool greift auf bestehende Datenbanken, wie das Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur, und deren Informationen zu allen Standorten und Eigenschaften offiziell angemeldeter Grünstromanlagen zu. Nach Eingabe der Anlagenregisternummer liefert die Plattform eine Kalkulation der Erlöserwartungen für die neue Anlage. Die künftige Strommarkt-Preisentwicklung bezieht das clevere Computerprogramm mit ein. Nach wenigen Klicks ist der Vertrag abgeschlossen und Quadra übernimmt die Direktvermarktung. „So machen wir die Nutzung der Solarenergie für jedermann barrierefrei“, sagt Quadra-Geschäftsführer Thomas Krings.
300 Terawattstunden und mehr beträgt das Volumen des am Spotmarkt für Deutschland und Luxemburg jährlich gehandelten Stroms.
Mit einem Portfolio für ein Erzeugungsvolumen von 9.500 Megawatt (MW) – 4.000 Windenergie- und 900 PV-Anlagen – ist Quadra nach eigenen Angaben Deutschlands führender Direktvermarkter von Strom aus Erneuerbare-Energien-Anlagen. Durch ein eigenes sogenanntes virtuelles Kraftwerk bündelt das Unternehmen die Erzeugung unterschiedlichster Anlagen. Es beseitigt die Abweichungen wetterabhängiger Stromerzeugung vom Verbrauch und den Stromlieferpflichten in jedem Moment durch Zu- oder Abschalten von Anlagen. Vergangenen Herbst hat der Ölkonzern Total das Unternehmen gekauft. Seitdem kann Quadra auch auf die in Deutschland geplanten großen Offshore-Windkraft-Kapazitäten der Franzosen als Stromlieferquellen zurückgreifen, sie bieten eine sehr stete, höherpreisig vermarktbare Stromproduktion.
Grundsätzlich muss der ins Leitungsnetz eingespeiste Strom aus PV-Anlagen schon ab 100 kW seit 2016 zur Vermarktung in den Stromhandel. Das regelt das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Nach Einführung des sogenannten Redispatch 2.0 im Netzausbaubeschleunigungsgesetz von 2019 erhielten die Direktvermarkter auch eine operative Rolle in der Netzeinspeisung: Leitungsnetzbetreiber dürfen seither bei einer drohenden Übereinspeisung und wo es wirtschaftlich und technisch sinnvoll ist, dezentrale Grünstromerzeuger anstelle der fossil befeuerten Kraftwerke abregeln. Und die Direktvermarkter können mit mehreren Abrechnungs- und Bilanzmethoden jonglieren, die den von ihnen betreuten Anlagen zugutekommen sollen.
Im Frühjahr hat die Bundesregierung mit dem Gesetzesbündel Solarpaket I nachgelegt, das Direktvermarkter nun als für sie wichtigste Neuregelung loben. Es räumt Sonnenstromerzeugern mehr Nutzungsvarianten für ihre Anlagen ein.
Darauf stellt sich besonders Qcells ein. Das im sachsen-anhaltinischen Thalheim Solarzellen produzierende Unternehmen bietet seit 2019, anfänglich zur Betreuung seiner Modulkunden, auch Stromdirektvermarktung an. Noch nimmt Qcells die Kundenanlagen ab 100 kW unter Vertrag, arbeitet aber am Angebot auch für noch kleinere Anlagen mit Verweis darauf, aktuell sehr viele Anlagen für kleinere Privatkunden zu installieren. Die Ostdeutschen vermarkten den Strom rein nach Börsenpreis – oder mit EEG-Marktprämie: Mit der Marktprämie stocken die Netzbetreiber im Falle niedriger Handels-
preise die Börsenumsätze auf das Niveau des Tarifs auf, für den die Anlage in einer EEG-Ausschreibung den Zuschlag erhielt. Auch den Sprung in Regelenergiemärkte bereitet die Direktvermarktungssparte vor – um höher vergütet Elektrizität zum Ausgleich von zu hoher Verbrauchslast oder zu wenig Einspeisung oder fürs Glätten unsauberer Strom- und Spannungskurven zu liefern.
Qcells reagiert indes auch auf die im Solarpaket eingeführte unentgeltliche Einspeisung: Sie erlaubt es PV-Anlagenbetreibern, ihren Strom zu verbrauchen und die Resterzeugung ohne Vermarktung und Verdienst ins Netz abzugeben. Das soll Kleinanlagenbesitzende entlasten, für die eine Direktvermarktung der Restmengen wegen der Kosten vorher nicht lohnte. Für sie will Qcells auch die Vermarktung der Reststrommenge wirtschaftlich machen (siehe Angebotsbeschreibung Seite 35).
Solarpaket I: Wichtigste Neuregelung mit Auswirkungen für die Direktvermarktung: So lautet die Einschätzung mehrerer der an unserem Special beteiligten Akteure.
Die Aufgabenvielfalt der Direktvermarkter nimmt durchs Solarpaket I zu. Mehr Ausschreibungen von Gewerbedach-PV bei höherer Förderung ab 40 kW, aber auch Ausschreibungspflicht schon ab einer auf 750 kW gesenkten Schwelle, Vereinfachungen von Anlagenzusammenfassungen, gemeinschaftliche Gebäudeversorgungen, entbürokratisierte Balkon-PV-Modulnutzungen, mehr Mieterstrommodelle, weniger technische Vorgaben für PV-Anlagen bis 25 kW in der Direktvermarktung, einfacherer Weiterbetrieb ausgeförderter Module sind nur einige Solarpaket-I-Elemente, die das Spielfeld besonders bei Kleinanlagen erweitern.
Auch den Abnehmerkreis weiten die Direktvermarkter aus. So gehen sie spätestens seit 2023 auch auf kleine und mittlere Gewerbeunternehmen zu. Sie vereinbaren mit den Mittelständlern die vorher nur für größere Konzerne interessanten langfristigen Stromlieferverträge – international: PPA. Die klimapolitischen Vorgaben der Bundesregierung auch für die Industrie dürften für das Interesse mitverantwortlich sein, aber auch jüngere energiepolitische Unsicherheiten und Preissprünge am Strommarkt durch außen- und handelspolitische Spannungen infolge des Ukrainekrieges.
Sunnic Lighthouse ist das Tochterunternehmen des PV-Projektentwicklers Enerparc. Es betreut bereits die Stromvermarktung für 2.800 MW PV-Kapazität und 850 MW Windkraft. Die Hamburger betreiben Spotmarkt-Handel auf der tagesaktuellen Intraday-Börse und dem Day-Ahead-Markt am Vortag von Stromlieferungen, konzentrieren sich daneben aber insbesondere auf den Abschluss von PPA. Kunden sind die Deutsche Bahn oder das Erneuerbare-Energien-Unternehmen Iquony des Steag-Energie-Konzerns ebenso wie zunehmend mittelständische Unternehmen.
Gela Aragvishvili (siehe Interview unten) ist der Verkaufschef von Sunnic Lighthouse. Er verweist auf ein Produkt, dessen Innovation die Befreiung von der Bilanzkreisverantwortung ist. Weil Mittelständler personelle und finanzielle Kapazitäten zur sogenannten Bilanzkreisbewirtschaftung fehlten – eine von den Netzbetreibern vorgegebene Verantwortung für große Strommarktteilnehmer, Ein- und Ausspeisung auszugleichen – seien sie faktisch ausgeschlossen gewesen. PPA sichern Unternehmen langfristig kalkulierbare Kosten. Sein Unternehmen biete Mittelständlern nun „die vor Krisenzeit gewohnte Vollversorgung mit zugleich stabilen Strompreisen“ an, sagt Aragvishvili.
Die hannoversche Gewi ist eine Partnerschaft durch mehrere PPA mit den Hamburgern eingegangen. Das aus zehn Experten bestehende schlanke Tochterunternehmen des Energiedienstleisters Getec Energie hat den Großteil der eigens betreuten Gesamtkapazität von 4.300 MW, darunter 3.000 MW von Anlagen nach Ende ihrer 20-jährigen EEG-Vergütung, in nur zweijährigen Stromlieferverträgen eingebunden. Manche dienen als sogenanntes Swap der Marktwertsicherung an der Börse.
Nun prüft Gewi den Zugang zum Minutenreservemarkt. Hierbei müssen Erneuerbare-Energien-Anlagen binnen 15 Minuten zum Ausgleich einer Unter-oder Überfrequenz im Netz aufgrund absehbar unausgeglichener Balance von Verbrauch und Einspeisung ihre Leistung senken oder mehr einspeisen. Sie müssen dies mit mindestens 5 MW leisten. Auch Gewi nutzt eigenständig ein virtuelles Kraftwerk, um Anlagenleistungen zu bündeln und um die Anlagen für die Direktvermarktung zu schalten (siehe Interview unten).
Mittelstand: Kleine und mittlere Unternehmen werden zur neuen Zielgruppe für langfristige Stromabnahmeverträge, sogenannten Power Purchase Agreements, kurz: PPA.
Weil weiterhin neu installierte Anlagen bei einer EEG-Vergütung grundsätzlich am Handel an den Strombörsen teilnehmen, nimmt das Volumen des an den Stromhandelsbörsen im kurzfristigen Spotmarkt gehandelten Stroms weiter zu. So betrug 2023 das in Deutschland und Luxemburg gehandelte Day-Ahead-Volumen 234 Terawattstunden (TWh) und das Intraday-Volumen knapp 85 TWh. Der Futures-Markt aber explodiert. Termingeschäfte zur langfristigen Stromversorgung, die auch der Finanzmarktabsicherung für Grünstrom-PPA dienen können, nahmen auf 3.660 TWh zu.
Ebenfalls in Düsseldorf tätig ist Statkraft mit Aktivitäten in den Bereichen Direktvermarktung und Origination. Das norwegische Energieunternehmen hat im deutschen Markt 7,4 Gigawatt (GW) Grünstromerzeugung in der Direktvermarktung. Seit Januar gab es drei höchst unterschiedlich gestrickte PPA in Deutschland bekannt. So beliefert es nun die deutschen Standorte des Antriebstechnologiespezialisten Vitesco Technologies in einem Dreijahreszeitraum mit 83 Gigawattstunden (GWh) aus Wind- und Solarparks. Zudem vereinbarte es mit Projektentwicklungsunternehmen Alterric mehrere PPA für 1,2 TWh Windstrom, um daraus Unternehmen mehrerer Industriezweige zu beliefern. Mit der Deutschen Bahn schloss Statkraft ein Acht-Jahres-PPA für knapp 500 GWh ab, dessen Stromlieferungen vor allem aus Wasserkraft kommen werden.
Statkraft bringt nach Angaben des Leiters im deutschen Direktvermarktungsgeschäft, Marc Kohlenbach, bei den nun beginnenden Neuverhandlungen der Kundenverträge auch die Verbesserung von Datenqualität und -austausch zum Anlagenbetrieb auf den Tisch. Ein wichtiges Ziel dieser Aktivität ist eine möglichst reibungslose Kompensation der Kunden bei Abregelungen durch den Netzbetreiber (siehe Interview links).
Der schwedische Energieversorger Vattenfall ist bisher vor allem Windstromhandelsakteur. Sein Portfolio mit vier GW alleine in Deutschland besteht im Großteil aus Windkraft. Die Vermarktungsreichweite ist breit: Je nach Anlagentechnik handelt das Unternehmen Grünstrom am Day-Ahead-Markt, setzt für den Intraday-Markt Batterien zur Verstetigung von Stromeinspeisung oder Stromabnahme ein und handelt Stromvolumen von Meereswindkraftanlagen für die Minutenreserve. Kunden können kurzfristig binnen zwei Monaten in der Stromvermarktung im Rahmen der EEG-Marktprämie zur sonstigen Direktvermarktung an den Spotmärkten wechseln.
Doch nun will der Akteur offenbar schnell sehr viel Potenzial fürs anschwellende PPA-Geschäft aufbauen – und setzt auf PV. Als jüngstes Vorzeigeprojekt wertet das Unternehmen die Versorgung des Kupferunternehmens Wieland in Ulm über ein Zehn-Jahres-PPA mit Sonnenstrom. Zudem nehmen die Schweden vorsorglich geplante 28 neue PV-Parks in Deutschland als große Elektrizitätsquelle für neue PPA mit mittelständischen bis großen Unternehmen in Angriff. Die leitende Erneuerbare-Energien-Vermarkterin von Vattenfall, Christine zu Putlitz, hält die jüngste EU-Strommarktreform für ein wichtiges Signal, damit PPA noch größeren Unternehmenskreisen zugänglich werden. „Die Regelungen ermöglichen die Einrichtung vereinfachter staatlicher Kreditgarantien für private Stromlieferverträge durch die Mitgliedstaaten“, sagt sie. Allerdings müsse hierbei Deutschland erst nachziehen.
Batterien als Mittel für noch präzisere und hochwertigere Direktstromvermarktung hat aber vor allem EnBW im Geschäftsplan. Der baden-württembergische Versorger bindet „Batteriespeicher vollautomatisiert mit unseren Algorithmen in unserem virtuellen Kraftwerksverbund“ in die Direktvermarktung ein. Wenn die Süddeutschen nun Kunden-PV-Anlagen in die Vermarktung übernehmen, bieten sie die Vermarktung von Batteriespeichern mit an und garantieren dafür neue Erlöspotenziale und mehr Netzstabilität (siehe Anzeige unten).
EnBW errichtet auch Stand-alone-Speicher am Netz. Doch die sogenannte Co-Location-Errichtung im Solarpark spart Netzanschlusskosten und vereinfacht Genehmigungsverfahren. Von rund 10.000 MW vermarktetem Strom aus Erneuerbaren-Anlagen bei EnBW stammen 80 MW bisher aus der Batteriespeicherung.